Senioren werden arm, Pflegeheime reich – Experte rät: „Werden Sie bloß nicht pflegebedürftig“
Die Pflegesituation in Deutschland ist desaströs. Im Interview erklärt ein Experte vom Pflegeschutzbund, warum das so ist und wie die Pflegeversicherung besser werden kann.
Berlin – Dass an der Pflege dringend etwas geändert werden muss, darüber sind sich alle einig. Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat deshalb gerade eine Pflegereform in den Bundestag gebracht, um zumindest die Finanzierung der Pflegeversicherung etwas zu stabilisieren. Ob das ausreichen wird, daran gibt es in Expertenkreisen erhebliche Zweifel.
Markus Sutorius arbeitet in der Rechtsabteilung des BIVA-Pflegeschutzbundes. Unter anderem berät er dort Angehörige von Pflegebedürftigen in Rechtsfragen. Mit Ippen.Media sprach er über die größten Probleme der Pflegeversicherung, warum die Pflegereform der Bundesregierung nicht gut genug ist und wie eine bessere Pflege in Deutschland aussehen könnte.

Herr Sutorius, was sind die typischen Fälle, die bei Ihnen zur Rechtsberatung kommen?
Die meisten Anfragen bewegen sich im Rahmen der Entgelterhöhungen, die in letzter Zeit sehr hoch ausgefallen sind. Was uns auch viel beschäftigt, sind Mängel in der Pflege. Uns erreichen aber auch viele Anfragen zur Sozialhilfe: Wie bekomme ich die? Bekomme ich im Heim auch Wohngeld? Das sind Fragen, die uns in letzter Zeit immer mehr erreichen.
Da sind wir ja schon beim Thema: Die Pflegebedürftigkeit stellt das größte Armutsrisiko für ältere Menschen dar. Was sind die wesentlichen Gründe dafür?
Die Pflegekosten sind seit Herbst letzten Jahres explodiert. Das liegt einerseits daran, dass Pflegekräfte jetzt nach Tarif bezahlt werden müssen. Zweitens liegt es aber natürlich auch daran, dass im Heim die Kosten gestiegen sind. Man denkt an Energiepreise und Lebensmittelkosten – all das müssen die Pflegeheime auch bezahlen. Die Einrichtungen dürfen diese Kosten an die Heimbewohner einfach weitergeben – und tun das auch. Wir reden hier von einem Eigenanteil, der sich im Durchschnitt auf 2400 Euro im Monat beläuft. Die Pflegekasse zahlt nur den gesetzlich verankerten Zuschuss je nach Pflegegrad und mehr eben nicht.
Die gesetzliche Pflegeversicherung ist chronisch unterfinanziert. Wie könnte sie besser gemacht werden?
Die Pflegeversicherung wird momentan nur von den Pflichtversicherten - also den Arbeitnehmern - mit einem Betrag von 3,05 Prozent des Bruttolohns finanziert. Bei kinderlosen Versicherten sind es 3,4 Prozent. Der Betrag soll mit der Pflegereform jetzt steigen, auf 3,4 Prozent. Das reicht aber alles nicht aus. Wenn man in die Nachbarländer schaut, insbesondere in die Niederlande, dann zahlen die Menschen dort circa zehn Prozent des Bruttolohns ein. Die haben auch noch eine Bürgerversicherung, das heißt Selbstständige und Beamte zahlen auch in die Pflegekasse ein.
Wenn wir hier die Beiträge auf zehn Prozent erhöhen würden, wäre das sicher eine sehr unbeliebte Reform.
Deshalb wirds ja auch nicht gemacht. Die Frage, die sich die Politik stellen muss, ist die: Wie soll die Pflege finanziert werden? Über eine Versicherung oder über Steuergelder? Im Moment haben wir eigentlich eine gemischte Finanzierung. Neben den Versicherungsbeiträgen wird sie durch die Zuschüsse des Bundes in die Pflegeversicherung und durch die Sozialhilfe, von der Bedürftige im Moment früher oder später abhängig sind, finanziert.
Plädieren Sie als Pflegeschutzbund also für eine deutliche Erhöhung der Beiträge? Oder sollte man das System komplett umkrempeln?
Es gibt bei dem Thema natürlich unterschiedliche Meinungen, auch bei uns. Ich persönlich bin der Meinung, dass eine Versicherung, die für die Daseinsvorsorge aufkommt, eigentlich Quatsch ist (lacht). In den skandinavischen Ländern wird die Daseinsvorsorge über Steuern finanziert, das finde ich viel sinnvoller. Als Pflegeschutzbund fordern wir grundsätzlich aber eine Bürgerversicherung, also eine Pflegekasse, in die alle – auch Selbstständige und Beamte – einzahlen. Dann würde schon mal viel mehr Geld in die Kasse kommen. Das war auch mal angedacht, das einzuführen, allerdings haben wir jetzt stattdessen eine Pflegereform, die im Grunde wenig ändert, bis auf eine leichte Erhöhung der Beiträge.
Die Pflegereform des Gesundheitsministers halten Sie also für wenig sinnvoll?
Ja, es ist ein Reförmchen. Die gestiegenen Kosten werden damit kaum abgefedert. Was wir bräuchten, wäre eine Reform, die die Versicherung auf andere Füße stellt. Stichwort Sockel-Spitze-Tausch. Damit würde der Pflegebedürftige einen festen Betrag zahlen, und alles, was darüber geht, dafür käme die Pflegeversicherung auf. Das könnte man auch nach Einkommen staffeln. Jetzt gerade ist es aber andersrum.
Wie werden die Kosten in den Einrichtungen denn berechnet? Macht sich hier vielleicht irgendwer die Taschen voll?
Das wissen wir nicht so genau. Wir wissen nicht genau, wie die Verhandlungen zwischen den Pflegekassen, den Sozialhilfeträgern und den Einrichtungen laufen. Die Kostenträger sollen eigentlich eine Plausibilitätsprüfung durchführen, aber ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob sie wirklich so gut aufgestellt sind, dass sie das in jedem Fall tun. Wir hören immer wieder, dass diese Pflegesatzverhandlungen ablaufen wie auf dem Bazar. Es werden irgendwelche Zahlen in den Raum geworfen und dann einigt man sich irgendwo in der Mitte, ohne dass das in irgendeiner Form nachvollziehbar ist.
Gibt es darüber keine Transparenz?
Nein. Diese Transparenz gibt es für Heimbewohner nur, wenn der Heimbeirat an den Verhandlungen teilnimmt. Das dürfen Heimbeiräte aber nur in Bayern und Baden-Württemberg. Und auch dort machen das die wenigsten, es ist auch ein kompliziertes Verfahren. Wenn es aber mal passiert, dass dort auch noch jemand sitzt, der zufällig bei uns im Verein ist – dann ist das die Aussage, die wir hören: Es ist ein Bazar.
Und die Pflegekassen verhandeln wahrscheinlich nicht besonders hart, weil sie ja sowieso nur einen festen Betrag zahlen müssen.
Richtig. Sie sollen eigentlich schon prüfen, wie die Kosten zustande kommen. Aber ob die diese Aufgabe wirklich wahrnehmen…. Man kann zumindest daran Zweifel haben.
Das heißt, es ist nicht auszuschließen, dass Heimleitungen hier die Chance ergreifen, Profite zu machen?
Es ist nicht auszuschließen, genau. Wenn man auch hört, dass manche Einrichtungen größere Renditen machen, dann sieht man schon, dass an den Pflegesatzverhandlungen was nicht stimmt.
Wie können sich die Menschen davor schützen, später in diese Armutsfalle zu tappen?
Eigentlich gar nicht. Der Schutz vor der Armutsfalle ist: Werden Sie bloß nicht pflegebedürftig. Um das Armutsrisiko zu reduzieren, müsste der Staat eine umfassende Pflegereform auf den Weg bringen.