Der dritte Pol schmilzt

Wenig beachtet von der Weltöffentlichkeit verliert die Hindukusch-Himalaya-Region schleichend ihre riesigen Gletscher. Eine Katastrophe für die ganze Welt.
Der Fokus lag bisher auf anderen Dingen“, sagt Kai Müller, Geschäftsführer der International Campaign for Tibet in Deutschland. Müller war auf dem Klimagipfel in Madrid, um die internationale Aufmerksamkeit auf eine Klimakrise zu lenken, die unter all den Klimakrisen der Welt eher wenig beachtet wird: Die im Hochland von Tibet. Das gehört zur Hindukusch-Himalaya-Region, einer der schnee- und eisreichsten Gegenden der Welt, nur übertroffen von der Arktis und Antarktis. Manche nennen sie deshalb den „dritten Pol“ der Erde. Und der schmilzt gerade weg wie die anderen beiden.
„Dies ist die Klimakrise, von der Sie noch nicht gehört haben“, sagte Philippus Wester, als er im Februar den von ihm koordinierten Bericht über den Klimawandel und dessen Folgen in der Hindukusch-Himalaya-Region vorstellte. Der Holländer lebt im Kathmandu-Tal in Nepal, wo er als Chefwissenschaftler am International Centre for Integrated Mountain Development (Icimod) arbeitet, einer 1983 gegründeten gemeinschaftlichen Einrichtung der acht Hindukusch-Himalaya-Staaten Afghanistan, Pakistan, Indien, Nepal, China, Bhutan, Bangladesch und Myanmar. Auch Wester war in Madrid und sagte dort: „Wir verlieren gerade unsere Gletscher und den Permafrost, und das wird sehr, sehr negative Folgen haben.“ Er sagte aber auch: „Wir wissen, was wir zu tun haben.“
Himalaya: Langsam verschwinden zehntausende Gletscher
Die Hindukusch-Himalaya-Region nimmt etwa 4,2 Millionen Quadratkilometer ein, das entspricht zwölf Mal der Fläche Deutschlands. Rund die Hälfte davon ist das Hochland von Tibet, das auf durchschnittlich 4000 Metern Höhe liegt, also 1000 Meter höher als der Gipfel der Zugspitze. In großen Teilen der Gegend herrscht Dauerfrost. Hier liegen zehntausende Gletscher mit einem Gesamtvolumen von 6000 Kubikkilometern. Langsam verschwinden sie.
Zwischen 1900 und 2005 verloren sie 15 Prozent ihrer Masse, wobei sich der Schwund in den 1970er Jahren zu beschleunigen begann und seit Anfang dieses Jahrhunderts noch einmal mehr. Wenn der globale Temperaturanstieg auf 1,5 Grad (im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten) beschränkt bleibt, wird bis Ende dieses Jahrhunderts voraussichtlich ein Drittel der heutigen Gletschermasse geschmolzen sein: 2000 Kubikkilometer, eine Menge Eis. Wenn auf der Welt weiter Öl, Gas und Kohle verbrannt wird wie bisher, ist bis 2100 mit dem Abschmelzen von zwei Dritteln des heutigen Gletschervolumens zu rechnen: 4000 Kubikkilometern.
Die Auflösung der Gletscher ist die offensichtlichste Folge der steigenden Temperaturen. Im Hochgebirge steigen sie mehr als im globalen Mittel. „Wenn sich die Temperaturen bis 2100 durchschnittlich um 1,5 Grad erhöhen sollten, dann rechnen wir im Hindukusch-Himalaya mit 2,1 Grad“, erklärt Wester. „Und wenn wir weitermachen wie bisher, dann erwarten wir 5,5 bis sechs Grad mehr.“ Was die überdurchschnittliche Erwärmung auslöst, „wissen wir nicht“. Aber man kann sie schon jetzt konstatieren. Bis heute hat sich die Atmosphäre im globalen Mittel um 1,1 Grad im Vergleich zu vorindustriellen Zeiten erwärmt. Im Himalaya um 1,5 Grad. „In manchen Gegenden um zwei Grad“, sagt Wester.

In der Hindukusch-Himalaya-Region entspringen zehn der großen Flüsse Asiens, darunter der Indus, der Ganges, der Gelbe Fluss, der Jangtse und der Mekong. In ihrem Einzugsgebiet leben rund 1,9 Milliarden Menschen, ein Viertel der Menschheit. In den Bergen selbst leben 240 Millionen Menschen. Eine der neuen Gefahren für sie sind die durchs Schmelzwasser anschwellenden Gletscherseen, die sich nach Erdstößen schlagartig in die Täler ergießen können. „Die Berge werden instabil“, sagt Wester, „das bedeutet: mehr Lawinen, mehr Bergrutsche, mehr Katastrophen.“
Himalaya: Permafrostböden beginnen zu tauen
Die nächste Gefahr: Im Hochland von Tibet beginnen die Permafrostböden zu tauen, wobei Methan und Kohlendioxid freigesetzt werden. Außerdem hält der Boden, wenn er bis in tiefe Schichten auftaut, kein Wasser mehr, und die Oberfläche, auf der es sonst im Sommer grünt, verwandelt sich in Wüste. „Große Teile Tibets erleben das schon: Sie trocknen aus“, sagt Wester.
Eine der schwerwiegenden Folgen der Temperaturverschiebungen, nicht nur für die Bergregion selbst, ist die zunehmende Unberechenbarkeit des Wetters. „So wie im Kathmandu-Tal, in dem ich lebe, auf 1400 Metern Höhe, wo die Leute seit Hunderten Jahren ihren Reis am 10. Juni pflanzen,“ erzählt Wester. „Jetzt können sie ihn nicht mehr am 10. Juni pflanzen, weil sie nicht wissen, ob es regnen wird oder nicht. Also: Warten wir bis zum 20. Juni – oh, immer noch kein Regen. Also: Juli. Irgendwann wird es zu spät, um im Oktober ernten zu können.“ Je höher die Temperaturen steigen, sagt Wester, umso extremer die Folgen. Der Monsun, der gewöhnlich für einen täglichen, sanften Regen sorgt, wird unberechenbarer, er kommt zu spät, er kommt zu früh, die Wolkenbrüche nehmen zu. All das geschieht schon.
Kai Müller von der International Campaign for Tibet will, dass die Welt genauer hinschaut. Besonders auf China, das sich nie gerne von anderen beobachten lässt. Müller beklagt autoritäre Maßnahmen: Eine Million Nomaden, ein Sechstel der tibetischen Bevölkerung, seien vom Regime zur Sesshaftigkeit gezwungen worden. „Dabei könnte es ihre Rolle sein, das Grasland zu bewahren und zu schützen, so wie sie es seit langer Zeit getan haben“, sagt Müller.
Himalaya: Nicht wiedergutzumachende Schäden
Und er beklagt „extensiven“ Staudammbau, der als Ausbau erneuerbarer Energien verkauft werde, aber schwere, nicht wiedergutzumachende Schäden an den Flussökosystemen anrichte. Die EU müsse sich für Tibet interessieren, die Dringlichkeit der Probleme verstehen und ansprechen – auch wenn China „jede Meinungsäußerung aus dem Westen grundsätzlich als unzulässige Einmischung“ betrachte.
„Wenn wir wirklich wissen wollen, was in dieser Gegend passiert, brauchen wir mehr Forschung“, sagt Wester. Im Hochland von Tibet und im Rest der Hindukusch-Himalaya-Region. „Dort haben wir zurzeit zehn Gletscher, zehn… unter den Zehntausenden haben wir zehn Gletscher, die langfristig beobachtet werden. Nur zehn!“ Er wiederholt die Zahl immer wieder. Er will mehr und Genaueres wissen.
Aber das Wichtigste wisse man bereits: „Wie wir zu handeln haben. Wir wissen bereits: 1,5 Grad sind zu viel.“ Die Welt muss aufhören, Kohle, Öl und Gas zu verbrennen. Noch geschieht in vielen Länder der Region das Gegenteil. In China und Indien steigt die Kohleförderung. Und in Bangladesch soll die installierte Kohlekraftleistung von heute 0,5 Gigawatt bis 2040 auf 25,5 Gigawatt ausgebaut werden.
Jeder kann zum Klimaschutz beitragen. Die FR fasst die zehn wichtigsten Fragen und Antworten zu aktuellen Debatten zusammen.