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Nicht Gott, sondern Chaos

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Von: Christian Schlüter

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Aus dem Überraschungsraum: Joseph Vogls großartiger Essay über das „Gespenst des Kapitals“

Man ist schnell zufrieden. Es bedarf nur des Hinweises auf die allgemeine wirtschaftliche Lage, auf die hart und verlustreich umkämpften Weltmärkte, auf betrügerische Immobilienfonds oder sinkende Steuereinnahmen – und schon ist man bereit, zu glauben und hinzunehmen. Ökonomische Gründe ziehen immer, mit ihnen lässt sich noch jede Schweinerei beinahe gefahrlos rechtfertigen, der Abbau von Sozialleistungen oder Arbeitsplätzen, die Armut in der Welt oder der Gehaltsverzicht, das Führen von Kriegen, steile Bankerboni oder fiese Taschengeldkürzungen. Wirtschaft ist unser Schicksal, wer „Wirtschaft“ sagt, hat Recht und darf auf Verständnis hoffen.

Joseph Vogls Essay „Das Gespenst des Kapitals“ unternimmt nichts Geringeres, als diesen Glauben an die Alternativlosigkeit kapitalistischen Wirtschaftens eingehender zu untersuchen und, so viel vorweg, nachhaltig zu erschüttern. Dabei hat sich der Berliner Literaturwissenschaftler vor allem ökonomische Texte vorgenommen, die er nun mit seinen, eben literatur- und kulturwissenschaftlichen Mitteln interpretiert. Das hat vor allem den Reiz, den bei Ökonomen durchaus verbreiteten Kurzschluss zu vermeiden, eine nach Maßgabe ökonomischer Theorien modellierte Wirklichkeit mit einer weiteren Theorie zu beschrieben, die sich auch nur wieder einem ökonomischen Modell verdankt.

Mandelbrot in der Ökonomie

Diese Selbstbezüglichkeit in der Theoriebildung mag zu der empiriefernen Vorstellung geführt haben, kapitalistische Märkte seien auch nicht viel mehr als natürliche Kreisläufe, große Organismen, die sich insgeheim am osmotischen Ideal der Balance orientieren. Eine alte metaphysische Hypothek, nämlich das auf Leibnitz zurückgehende Konzept der prästabilierten Harmonie, dem ganz unterschiedliche ökonomische Schulen anhängen, neoliberale wie auch keynesianische, ja sogar auch marxistische. Vogl fragt nach dem Sinn dieser Lehre vom großen Ausgleich, der ausgeglichenen Bilanz als normativem Bezugspunkt des wirtschaftlichen Handelns: Welche Kulturtechniken stehen dahinter?

Der Essay beginnt mit der Nacherzählung von Don DeLillos Roman „Cosmopolis“ – der Geschichte des schwerreichen Fondsmanagers Eric Parker, der im Laufe einer Nacht nicht nur sein Vermögen verliert, sondern sich heillos in ein kriminelles Geschehen verstrickt und ins Bodenlose stürzt. Vogl liest DeLillos Roman als „Allegorie des modernen Finanzkapitals“ und interessiert sich besonders für das kunstvoll arrangierte Neben- und Ineinander von wirtschaftstheoretischen Einfällen, ökonomischen Ereignissen und existenzieller Verlotterung. In „Cosmopolis“ sei gelungen, so Vogl, was der harmoniesüchtigen Ökonomie zumeist abgeht – die Darstellung des Abnormen.

In dieser Perspektive erscheinen die harten ökonomischen Tatsachen als flüchtige Illusionen, als bloße Fiktionen, die literarische Welt dagegen als das wahre Leben. Nun wäre es allerdings falsch, in dieser Verkehrung die Spinnerei eines ahnungslosen Literaturwissenschaftlers zu sehen, der statt sich mit seiner schönen Literatur zu begnügen, den erfahrenen Ökonomen ihr eigenstes Terrain streitig macht. „Cosmopolis“ gibt nur die Richtung vor, denn nun beginnt Vogl, ausführlich die Geschichte der Fiktionalisierung oder: Derealisierung des Kapitals zu erzählen, jetzt kommen die ökonomischen Texte zum Zuge, und zwar als literarische Zeugnisse einer geradezu verzweifelten Flucht nach vorn.

So geht es vom 17. Jahrhundert und der Idee vom „ökonomischen Menschen“ über die Einführung der Banknote durch die Bank von England (1797) und die damit einhergehende Kreditzirkulation bis hin zur Vereinbarung von Bretton Woods, der Aufhebung des Goldstandards und der bis heute vorherrschenden Geldmengenpolitik. So landet Vogl in der Gegenwart und bei den Finanzmärkten. Sie gelten als Inbegriff der reinen Ökonomie: „Im Zeichen diverser Neoliberalismen hat sich die Einrichtung gegenwärtiger Finanzsysteme – theoretisch, praktisch, technisch – nach den Modellen perfekter, effizienter Märkte vollzogen und ließ das Finanzgeschehen als pars pro toto der Ökonomie insgesamt erscheinen.“

Damit wechselt Vogl zu seinen systematischen Überlegungen. Die Entkopplung von Real- und Finanzwirtschaft wurde in letzter Zeit zwar beschrieben und auch beklagt, schien aber auch gerechtfertigt zu sein, solange sie, gestützt durch ein „Theorieprofil, das auf die innere Stabilisierungstendenz“ setzt, sich als gesetzeskonforme, statistisch und prognostisch beherrschbare „Eigenlogik der Geldzirkulation“ darstellte. Was aber, wenn das gar nicht stimmt? Vogl macht uns auf den Einfluss aufmerksam, den Überlegungen des polnisch-französischen Mathematikers Benoît Mandelbrot in den 1960ern auf die ökonomische Theorie hatten, auf seine „Vorbehalte gegen homogene ökonomische Systemkonzepte“.

Mandelbrot sprach von einer „launischen oder monströsen Ereignishaftigkeit, den freak events“ etwa bei der langfristigen Entwicklung bei Baumwoll- und Wertpapierpreisen, von einem „anomalen Charakter“ und „wilder Zufälligkeit“. Ihn beeindruckten die dunkle und wirre Empirie, die regelhaften Unberechenbarkeiten, die ihn wie übrigens auch den russischen Physikochemiker Ilya Prigogine zu der Überzeugung kommen ließ, dass ökonomische Prozesse nicht mit mehr oder weniger exakten Grenzwerttheoremen zu beschreiben sind, sondern chaotischen Systemen gleichen, denen allenfalls mit Aussagen von eher meteorologischem Charakter beizukommen ist.

Säkularisierung des Marktes

Es gibt keine geschlossenen, auf ein Absolutes, eine vollkommene Balance ausgerichteten Systeme. Auch in der Ökonomie nicht. Vogl macht uns bekannt mit einem „wilden und opaken Überraschungsraum, in den sich unsere Gesellschaften hineinfinanziert“ haben. Er plädiert nachdrücklich für eine „Säkularisierung des ökonomischen Wissens“ und also auch für mehr Unabhängigkeit der Politik von den Märkten. In der Tat, statt (mit Karl Popper) seinen faulen Frieden mit dem Kapitalismus zu schließen oder ganz simpel von der Alternativlosigkeit des Kapitalismus zu schwadronieren, wäre mit Mandelbrot, Prigogine und Vogl erst einmal eine deftige Ausnüchterungskur zu empfehlen.

Ökonomie war einst eine stolze und große Wissenschaft. Von Adam Smith über Karl Marx bis zu John Maynard Keynes wurde hier das gesellschaftliche Ganze bedacht. Heute treten Ökonomen als Verkünder schlechter Nachrichtern auf: Gürtel enger schnallen, weniger Netto vom Brutto, höhere Abgaben... Und der wirtschaftsliberalen FDP ist es tatsächlich gelungen, die Ökonomie auf ein einziges, systematisch nicht einmal zentrales Thema herunterzukochen: Steuererleichterungen. Ein zweifelhaftes Verdienst, denn wer heute von Wirtschaft spricht, meint eigentlich nur noch: Geiz ist geil. Das darf das letzte Wort nicht sein.

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