Milliarden versenkt

Viele Bundesländer wollten sich mit Derivaten gegen steigende Zinsen absichern. Allein: Die Zinsen sind nicht gestiegen. Stattdessen haben die Regierungen riesige Summen verloren.
Was war das für eine Aufregung vor anderthalb Jahren, als das Finanzgebaren des hessischen Finanzministers Thomas Schäfer (CDU) erstmals in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde. „Hessen verspekuliert Hunderte Millionen Euro an Steuergeldern“, titelte die „Welt am Sonntag“. Einige Monate lang befassten sich nicht nur Finanzexperten mit der Frage, ob die hessischen Derivate-Geschäfte ein riesiges Loch in den Landeshaushalt gerissen haben, das mit einer klügeren Schuldenpolitik vermeidbar gewesen wäre.
Inzwischen ist klar, dass es nicht nur um die rund 375 Millionen Euro geht, die seinerzeit bekannt waren, sondern um mindestens weitere 537,56 Millionen Euro, die das Land rechnerisch hätte sparen können, wenn es seine Zinsen nicht Jahre im Voraus festgelegt hätte. Insgesamt, so schätzt die Fraktion der Linken im hessischen Landtag in einer plausiblen Modellrechnung, gehen den Steuerzahlern durch die Derivate-Geschäfte des Typs „Forward Payer Swap“ rund 3,2 Milliarden Euro verloren, verteilt über 40 Jahre. Das entspricht einer Summe von 80 Millionen Euro pro Jahr.
Nun überprüft der hessische Rechnungshof das Kredit- und Zinsmanagement des Finanzministeriums. Doch nicht nur in Hessen läuft eine Prüfung, sondern auch in Schleswig-Holstein, wo die Regierung ähnliche Geschäfte gemacht hat. Beide Berichte sollen noch im ersten Halbjahr 2020 vorliegen. Sie besitzen politische Brisanz mit Ausstrahlung in die ganze Republik.
Es geht um die Frage, ob die zuständigen Minister mit dem Einsatz von Derivaten fahrlässig Milliardenbeträge in den Sand gesetzt haben. Oder ob sie einfach Pech hatten mit Geschäften, die ihre Länder gegen steigende Zinsen absichern sollten, die sie aber angesichts weiter gefallener Zinsen nun teuer zu stehen kommen.
Die Auffassungen über Derivate gehen in der Republik weit auseinander. Acht Bundesländer setzen sie beim Schuldenmanagement ein, die anderen acht tun es nicht. Das ergab eine Umfrage der Frankfurter Rundschau in den Finanzministerien. Am stärksten werden sie von Schleswig-Holstein und Bremen mit Volumina von 20 und zwölf Milliarden Euro genutzt, gefolgt von Hessen (6,5 Milliarden Euro) und Baden-Württemberg (fünf Milliarden Euro). Wie ihr hessischer Kollege Thomas Schäfer musste auch die frühere Bremer Finanzsenatorin Karoline Linnert (Grüne) erleben, dass sich Vorsicht nicht immer auszahlt. Ihr Versuch, für Planungssicherheit zu sorgen, kostete das Land Millionenbeträge.

Der Bremer Rechnungshof prüfte das Schuldenmanagement zuletzt 2011, fand daran aber nichts auszusetzen. „Streng genommen ist natürlich immer ein spekulatives Element mit Derivaten verbunden, aber Vorhersagen sind nun mal grundsätzlich von gewissen Unsicherheiten gekennzeichnet“, räumt Rechnungshofpräsidentin Bettina Sokol im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau ein. Entscheidend sei aber unter anderem, „dass keine bloße Gewinnerzielungsabsicht verfolgt wird und keine hochriskanten Produkte eingesetzt werden“.
Es gibt allerdings Unterschiede. Bremen hat sich für maximal 20 Jahre an einen Zinssatz gebunden, Schleswig-Holstein lediglich für fünf bis zehn Jahre. Hessen lässt dagegen das ganze Paket 40 Jahre lang laufen.
Worum geht es? Die meisten Bundesländer müssen regelmäßig neue Kredite aufnehmen. Um nicht von steigenden Zinsen überrascht zu werden, schließen sie Derivate ab, die ihnen feste Zinssätze über lange Laufzeiten garantieren. Mit den umstrittenen „Forward Payer Swaps“ sorgen einige Länder dafür, dass diese Zinsgeschäfte erst zu späteren Zeitpunkten starten.
Dieses Modell war vor allem in den Jahren 2010/2011 beliebt, als die Zinsen auf einen historischen Tiefstand gefallen waren und Finanzminister glaubten, sie würden nun wieder klettern. Damit hatten sie sich allerdings verschätzt. Inzwischen ist klar: Die Kredite wären günstiger gewesen, wenn man sie zu den Konditionen späterer Jahre abgeschlossen hätte. Doch die Länder waren durch die „Forward Payer Swaps“ auch noch 2013, 2014, 2015 und in weiteren Jahren an die vorher vereinbarten Zinssätze gebunden.
Wie groß diese Verluste waren, hat der hessische Landesschuldenausschuss für das Jahr 2017 ausgerechnet. Die Swaps starteten demnach im Januar und Juni mit einem Festzins zwischen 2,756 und 3,67 Prozent. Hätte man den am Starttag geltenden Zins bekommen, hätte das Land nach Angaben des Finanzministeriums lediglich 1,567 bis 1,67 Prozent bezahlen müssen. Je Tranche ergaben sich damit Mehrkosten von 49 bis 80 Millionen Euro, in der Summe allein für 2017 knapp 538 Millionen Euro.
Eine ähnliche offizielle Rechnung liegt nur für 2013 vor. Damals schnitt das Land dank der Derivate um 375 Millionen Euro schlechter ab. Die Linke hat auch für die übrigen Jahre Modellrechnungen gemacht. Danach hat das Land mit den 2014, 2015 und 2016 gestarteten Swaps zusammen gut zwei Milliarden Euro eingebüßt, mit den 2018 angelaufenen Swaps weitere 272 Millionen Euro.
„Die Landesregierung muss einräumen, dass der Abschluss der Forward Payer Swaps ein Fehler war“, fordert der hessische Linken-Finanzpolitiker Jan Schalauske. „Von diesem Konstrukt, das gefährliche Wirkungen hat, muss man die Finger lassen“, betont auch seine FDP-Kollegin Marion Schardt-Sauer. Sie wünsche sich „tätige Reue“ vom Finanzminister. Die ganze hessische Opposition sieht Schäfers Praxis kritisch. Doch sie hat wenig Einfluss: Im Landesschuldenausschuss sitzt der SPD-Abgeordnete Marius Weiß als einziger Oppositionsabgeordneter mit Stimmrecht.
Im Laufe der mehrmonatigen Debatte hat Finanzminister Schäfer eine Reihe von Argumenten für seine Entscheidungen angeführt. Er hat darauf hingewiesen, dass andere Bundesländer ebenfalls mit Derivaten arbeiten. Schäfer hat zudem dargelegt, dass die meisten Experten seinerzeit wie das hessische Finanzministerium von steigenden Zinsen ausgegangen seien – und sich damit ebenfalls getäuscht hätten. Er hat betont, dass es nicht um Spekulation gegangen sei, sondern um „Absicherung“ – und dass ihm ein Verzicht darauf zum Vorwurf gemacht worden wäre, wenn sich die Zinsen nach oben entwickelt hätten. Die Grünen unterstützen ihn in dieser Haltung. „Hinterher ist man immer schlauer“, fasst die Grünen-Haushaltspolitikerin Miriam Dahlke zusammen.
Zudem verteidigt sich Schäfer stets mit dem Hinweis, dass sich auch die Derivate noch immer als gutes Geschäft erweisen könnten – wenn man die volle Laufzeit von 40 Jahren betrachte und die Zinsen irgendwann wieder über den vereinbarten Satz steigen würden. Politisch ist das ein besonders hilfreiches Argument – denn dann ließe sich erst lange nach Schäfers Amtszeit beurteilen, ob er gute oder schlechte Geschäfte für das Land eingefädelt hat.
In Schleswig-Holstein kann sich Ministerin Heinold darauf berufen, dass die Entscheidung für die Derivate 2013 „von allen Fraktionen des Landtages mitgetragen“ worden sei und „vom Landesrechnungshof unterstützt“ werde.
Die Begründungen für Derivate ähneln sich in den Ländern, die sie einsetzen, unabhängig von der parteipolitischen Farbe. „Der Abschluss dieser Art von Geschäften dient der Planbarkeit und zukünftigen Zinssicherung“, heißt es im Haus von Katrin Lange (SPD) in Brandenburg. Sie erfolgten ausschließlich zur „Planung und Steuerung der künftigen Haushaltsausgaben und erfolgen gerade nicht aus spekulativen Gründen“, formuliert das saarländische Finanzministerium von Peter Strobel (CDU). Ähnlich klingt das bei Edith Sitzmann (Grüne) in Baden-Württemberg, Matthias Kollatz (SPD) in Berlin und Michael Richter (CDU) in Sachsen-Anhalt.
Politisch bunt gemischt ist aber auch die Reihe der Bundesländer, die auf Derivate verzichten. „Sachsen hat unabhängig von den Bedürfnissen anderer Länder beschlossen, keine Derivate einzusetzen“, teilt das Haus von Hartmut Vorjohann (CDU) mit. Bei seiner SPD-Kollegin Heike Taubert in Thüringen heißt es so: „Nach der aktuellen Strategie des Freistaats Thüringen zur Steuerung des Kreditportfolios ist der Abschluss von Derivaten ausgeschlossen.“
Am deutlichsten wird man im niedersächsischen Finanzministerium von Reinhold Hilbers (CDU). In seinem Haus werde „bewusst auf die Bildung einer subjektiven Zinsmeinung und darauf ausgerichteter derivativer Instrumente verzichtet“, teilt seine Sprecherin mit. „Hierzu gehören auch Forward-Swaps, so dass ihr Einsatz in Niedersachsen grundsätzlich nicht in Betracht kommt.“
Die Rechnungshöfe waren schon immer vorsichtig, was dieses Instrument betrifft. „Diese Finanzinstrumente bergen erhebliche Risiken“, haben ihre Präsidenten bereits vor fünf Jahren in einer gemeinsamen Erklärung gewarnt. Man darf gespannt sein, zu welcher Auffassung sie nun nach jahrelangen Niedrigzinsen kommen – in Kiel und in Wiesbaden.