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„Die Arbeiter sind völlig abhängig“

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Von: Pitt v. Bebenburg

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Angewiesen auf einen Job in der Fremde: In Usbekistan gibt es kaum Arbeit.
Angewiesen auf einen Job in der Fremde: In Usbekistan gibt es kaum Arbeit. © Michael Schick

Der niederländische Experte Jan Cremers beschreibt den Missbrauch von grenzüberschreitenden Jobs in der Europäischen Union

Herr Cremers, immer wieder fliegen Skandale auf, wenn osteuropäische Bauarbeiter auf deutschen Baustellen ausgebeutet werden oder – wie jetzt – Lkw-Fahrer ihren Lohn nicht erhalten. Wie fair ist der europäische Arbeitsmarkt?

Als wir Ende der 80er Jahre mit dem Binnenmarkt angefangen haben, haben viele gesagt: Diese Freizügigkeit wird keinen großen Effekt haben, außer vielleicht beim Bau. Deswegen wurde vernachlässigt, zu welchen Folgen das führen kann. Als die ersten Exzesse bekannt wurden, wurden die als Einzelfälle abgetan. Inzwischen wissen wir, dass das keine Exzesse sind, sondern ein wichtiger Teil der Suche von Arbeitgebern nach Billiglohn-Arbeitern. Es gibt Berater, die können genau erzählen, was am billigsten ist und wie man Regelungen umgehen kann. Sie nutzen die unterschiedlichen Regeln in den Ländern aus.

Das heißt, es gibt viel mehr Beschäftigte, die zum Arbeiten von einem Land ins andere wechseln, als man damals erwartet hat.

Ja. Wir sprechen von ungefähr 20 Millionen Menschen, allein die registrierten, die über die Freizügigkeit oder über Entsendung in einem anderen Land arbeiten. Teile davon sind völlig in Ordnung. Es ist ein wichtiges Recht, dass du von heute auf morgen sagen kannst: Ich möchte in Toulouse arbeiten. Aber wir sehen auch, dass Leute über Vermittler Angebote bekommen, die überhaupt keine Ahnung haben, welche Rechte sie haben, oder ihnen wird etwas vorgespiegelt, was nachher nicht eingehalten wird.

Um welche Branchen geht es hauptsächlich?

Die Sektoren, die es vor allem betrifft, sind Bau, Fleischindustrie, teilweise die großen Logistikzentren und der Straßentransport. Im Agrarbereich gibt es die Schwierigkeiten mit der Saisonarbeit. Da gibt es auch Missbrauch. In jedem Sektor wird ein anderes Modell genutzt.

Derzeit streiken georgische und usbekische Lkw-Fahrer, weil sie ihren Lohn nicht erhalten haben. Wie sieht das Missbrauchsmodell im Straßentransport aus?

Es handelt sich um Fälle, wo Vermittler Arbeitskräfte aus Drittstaaten anwerben, die eigentlich gemäß Migrationsrecht nicht zur Einreise in die EU berechtigt sind. Sie werden mit dem Argument „Fachkräftemangel für internationale Speditionen“ in einigen EU-Mitgliedsstaaten angeworben, was einer der Gründe ist, auf deren Grundlage solchen Arbeitnehmern die Einreise in die EU gestattet werden kann. Die betreffenden Fahrer werden unmittelbar nach ihrer Einreise an andere Unternehmen in Europa „vermietet“ oder „entsendet“. Oft haben die Fahrer keine Ahnung, welche ortsüblichen Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen gelten. Sie befinden sich in einer totalen Abhängigkeit, ihre Bezahlung ist oft sehr niedrig und ihre Sozialversicherung nicht garantiert.

Arbeitsrechtler Jan Cremers
Arbeitsrechtler Jan Cremers © privat

Zur Person

Jan Cremers forscht zu europäischer Sozialpolitik an der Tilburg Law School. Er ist unabhängiger Experte im Vorstand der Europäischen Arbeits-behörde. Der niederländische Sozialdemokrat war von 2008 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments. Der Arbeitssoziologe gehörte von 1988 bis 1999, als Generalsekretär der Europäischen Föderation der Bau- und Holzarbeiter, dem Vorstand des Europäischen Gewerkschaftsbundes an.

Für die Hans-Böckler-Stiftung hat Cremers soeben die Studie „Supporting mobile migrant labour – the role of the trade union movement“ erarbeitet. Darin fasst er zusammen, welche Rechte Menschen zustehen, die in einem anderen europäischen Land als ihrem Heimatland arbeiten, und welche Strukturen die Gewerkschaften aufgebaut haben, um sie zu unterstützen. pit

Lassen sich solche Missbrauchsmodelle nicht verhindern?

Ich sage immer: Das Regelwerk bestimmt die Umgehung. Das klingt merkwürdig. Aber zum Beispiel in Frankreich war im Bau Leiharbeit lange verboten. Da kamen viele ausländische Kolleginnen und Kollegen im Rahmen der freien Dienstleistung über Entsendung hinein, denn das war möglich. Als das Verbot aufgehoben wurde, kamen auf einmal unheimlich viele Leute über Leiharbeit rein. Das ist eine einfache Rechnung. Manchmal ist das eine billiger als das andere. Man sieht das auch in der Fleischindustrie in Deutschland. Lange wurde über Werkverträge gearbeitet, mit bilateralen Abkommen. Das war billiger als Entsendung. Meine Schlussfolgerung ist: Die Suche nach Billiglohn-Arbeit ist ein wichtiger Teil des europäischen Arbeitsmarktes geworden.

Wissen die Menschen, welche Rechte sie haben?

Meistens nicht. Da hilft auch vieles nicht, was über Webseiten und andere Veröffentlichungen verbreitet wird. Ein Beispiel: Wir beide könnten heute übers Internet für 80 Euro eine Ready-Made-Company eröffnen, die formell in Malta schon vor fünf Jahren gegründet wurde, weil das einen seriöseren Eindruck macht, aber in Wahrheit ist das bisher nur eine leere Hülle. Dann fangen wir an, Rumänen mit einem lokalen Vermittler anzuwerben. Wir bieten sie in Belgien als Hafenarbeiter an. Der Kollege aus Rumänien bekommt ein Angebot – manchmal muss er sogar dafür zahlen, dass er ein Angebot bekommt. Der hat überhaupt keine Ahnung, auf was er sich genau einlässt. In so einer Sachlage sind die Arbeiter völlig abhängig.

Und was passiert, wenn der Lohn nicht gezahlt wird, uferlose Arbeitszeiten nicht entlohnt werden oder die Unterkunft unzumutbar ist?

Dann weiß er überhaupt nicht, wie und wo er zu seinem Recht kommt. Sein Betrieb ist in Malta, er kommt aus Rumänien, wo eigentlich seine Sozialversicherung geregelt sein müsste. Das sind unheimlich schwierige Fragen.

Gibt es Beratungsstrukturen, die über Landesgrenzen hinweg funktionieren?

Es gibt keine wirkliche Vernetzung auf europäischer Ebene von Gewerkschaftsseite. Eine Zusammenarbeit gibt es zum Teil bilateral. Aber das sind Ansätze, die projektmäßig aufgebaut wurden. Wenn das Projekt vorbei ist, dann hört das auf – und dann geht auch das Wissen verloren. Es gibt jetzt die Hoffnung, dass das Projekt „Fair European Labour Mobility“ auf eine dauerhafte Grundlage gestellt wird. Da wollen Gewerkschafter vom Deutschen Gewerkschaftsbund mit Kollegen aus Rumänien, Polen, Ungarn, Slowenien über eine längere Zeit zusammenarbeiten, die Menschen informieren und beraten. Am wichtigsten ist, das Wissen festzuhalten, das in vielen kleinen Projekten entwickelt worden ist. Es braucht die Mittel und eine Vernetzung, um das langfristig aufrecht zu erhalten.

Wenn wir über ein soziales Europa sprechen: Wo müsste es Verbesserungen geben?

Die Freizügigkeit ist ein wunderbares Recht, nach wie vor, übrigens auch als Symbol dafür, dass der Kalte Krieg vorbei ist. Aber was das für den Arbeitsmarkt bedeutet, für Menschen, die Opfer werden, damit haben wir uns viel zu wenig beschäftigt. Es ist doch merkwürdig, dass die europäischen Staaten die Freizügigkeit der Arbeitnehmer gestaltet haben, ohne flankierende Maßnahmen, um diejenigen zu unterstützen, die diese Freizügigkeit verkörpern.

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