„Indikatoren für Zwangsarbeit“

Textilexpertin Sabine Ferenschild spricht im FR-Interview über Fabriksicherheit in Bangladesch, Hungerlöhne, exzessive Überstunden und die Verantwortung der Modefirmen.
Sabine Ferenschild erinnert sich noch gut an die Tage nach dem „Rana Plaza“-Unglück im Jahr 2013. Sie war damals als Südwind-Expertin für textile Lieferketten auf Vortragsreise und sei angesichts der Tragödie mit einer großen Wut in die Veranstaltungen gegangen. Der Fall Rana Plaza und die Folgen prägen seither ihre Arbeit. Ihre Bilanz fällt gemischt aus.
Frau Ferenschild, vor zehn Jahren ist die Textilfabrik „Rana Plaza“ eingestürzt, mehr als 1100 Menschen kamen dabei ums Leben. Könnte sich eine solche Katastrophe heute noch einmal ereignen?
Ich denke, das wäre schon möglich. Es hat sich zwar gerade in Bangladesch bei der Gebäudesicherheit einiges verbessert, aber das betrifft vor allem jene exportierenden Betriebe, die sich nach dem Unglück dem „Accord on Fire and Building Safety in Bangladesh“ angeschlossen haben und seitdem häufiger inspiziert werden. Aber es gibt noch zahlreiche Unternehmen, die nicht Teil des Abkommens sind. Und wir müssen natürlich auch auf andere asiatische Länder mit großer Textilproduktion schauen, in denen es teils massive Probleme mit der Statik von Fabriken oder dem Brandschutz und damit Gefahr für Leib und Leben gibt.
Das erwähnte Abkommen, das Betriebe sicherer machen soll, wurde bereits zweimal verlängert. Warum braucht es solche freiwilligen Vereinbarungen zwischen internationalen Gewerkschaften und Modefirmen?
Eine entscheidende Frage. Denn eigentlich müssten staatliche Behörden genau diese Aufgaben übernehmen, Fabriken inspizieren und Arbeitssicherheit durchsetzen. Aber die zuständigen Stellen sind nicht nur in Bangladesch dramatisch unterausgestattet.
In den ersten Jahren nach der Katastrophe von „Rana Plaza“ hat sich die Aufmerksamkeit vor allem auf die Verbesserung der Sicherheit von Beschäftigten gerichtet. Was hat sich bei den Sozialstandards getan?
Die Näherinnen und Näher sind oft immer noch ausbeuterischen Bedingungen ausgesetzt. Das umfasst die Bezahlung, die viel zu gering ist, den Zwang zu Überstunden, aber auch die Erfahrung von physischer und sexueller Gewalt. Und Beschäftigte, die sich gewerkschaftlich organisieren wollen, werden oft grundlos entlassen. Es gibt ein großes Überangebot an Arbeitskräften und die Fabrikbesitzer können die Bedingungen diktieren.
Was verdienen die Textilarbeiter:innen in Bangladesch?
Der Mindestlohn in der Bekleidungsbranche liegt seit einigen Jahren bei 8000 Taka, umgerechnet knapp 70 Euro im Monat. Das reicht bei Weitem nicht, um die Existenz sichern zu können. Angesichts der stark gestiegenen Lebenshaltungskosten fordern die Gewerkschaften in Bangladesch einen Mindestlohn von 22 000 Taka, das wären rund 203 Euro.
Zur Person
Sabine Ferenschild arbeitet seit 2011 als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Südwind Institut für Ökonomie und Ökumene. Ihre Schwerpunkte sind Arbeitsbedingungen in der textilen Wertschöpfungskette.
Aktuell beschäftigt sie sich mit dem Risiko von Zwangsarbeit in der textilen Kette und menschenrechtlichenProblemen im Transport- und Logistiksektor. Die promovierte Sozialwissenschaftlerin vertritt Südwind in der Kampagne für Saubere Kleidung und im Textilbündnis. tos
Wie kommen die Beschäftigten mit diesen Armutslöhnen über die Runden?
Nur mit zahllosen Überstunden, zu denen sich die Näherinnen genötigt sehen. Das sind dann oft mehr als 60 pro Woche. Viele Beschäftigte berichten, sie hätten gar keine Wahl, ob sie mehr arbeiten wollen. Teilweise werden sogar Strafen angedroht. Der Druck ist hoch. Damit sind im Grunde schon einige der Indikatoren erfüllt, die die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) bei der Definition von Zwangsarbeit zugrunde legt. Bei der Überprüfung der Sozialstandards in den Fabriken durch die Auftraggeber ist hier also eine besondere Sensibilität geboten.
Sie sprechen die Verantwortung der Modefirmen an, die in Ländern wie Bangladesch produzieren lassen. Nach der Rana-Plaza-Katastrophe wurde 2014 das deutsche Bündnis für nachhaltige Textilien gegründet, eine Multi-Akteurs-Partnerschaft, an der auch rund mehr als 70 Unternehmen beteiligt sind. Was hat die Allianz erreicht?
Das Bündnis ist eine freiwillige Veranstaltung – das ist der entscheidende Geburtsfehler. Firmen, die Mitglied werden, verpflichten sich zwar auf gemeinsame soziale Bündnisziele. Aber wie und in welchem Tempo sie sich diesen Zielen in ihrer Lieferkette annähern, entscheiden sie selbst. Meines Wissens nach kann keine der beteiligten Firmen da bislang signifikante Fortschritte vorweisen. Vor allem bei der Gewerkschaftsfreiheit und der Entlohnung ist noch viel Luft nach oben. Und da liegt die Verantwortung auch eindeutig bei den Auftraggebern, die ihre Einkaufspraktiken verändern müssen.
Die Unternehmen argumentieren immer wieder, sie könnten nicht alleine dafür sorgen, dass höhere Einkaufspreise auch bei den Näher:innen ankommen. Vor allem, wenn Wettbewerber weniger zahlen.
Es ist komplex, aber es gibt Wege, das anzugehen. Es kann funktionieren, wenn Firmen mit einer Fabrik eine stabile Lieferbeziehung eingehen, mit einem nicht zu geringen Auftragsvolumen. Noch besser, mehrere Modefirmen schließen sich zusammen und verständigen sich auf gemeinsame Einkaufspraktiken für einen Zulieferer oder einen ganzen Industriebezirk. Wenn diese dort konzertiert auftreten und den Fabriken Einkaufspraktiken anbieten, die den Fabriken ermöglichen, höhere Löhne zu zahlen, dann lässt sich etwas bewegen. Den Willen dazu habe ich bei den Unternehmen im Textilbündnis noch nicht erkennen können.
Wird das Lieferkettengesetz, das seit Januar zunächst für große Unternehmen gilt, für mehr Fairness und Gerechtigkeit sorgen?
Es ist zumindest bei aller berechtigten Kritik ein Riesenschritt nach vorne, weil es für diese großen Unternehmen verpflichtend wird, sich mit den sozialen und ökologischen Herausforderungen in ihren Wertschöpfungsketten zu befassen. Und weil über die öffentliche Berichterstattung Transparenz geschaffen wird. Allerdings schreibt das Gesetz eine zivilrechtliche Haftung für verursachte Schäden nicht fest. Von Gerechtigkeit für die Betroffenen kann deshalb noch keine Rede sein. Die erwartete europäische Regulierung wird da hoffentlich weiter gehen.
Um ihren Sorgfaltspflichten nachzukommen, beauftragen Textilhersteller Prüfunternehmen. Was ist daran problematisch?
Solche Audits finden in der Regel angekündigt statt. Der Betrieb wird dann zuvor aufgeräumt. Beim Besuch der Auditoren hängen dann Feuerlöscher an der Wand und es steht nichts mehr im Weg, was die Fluchtwege versperren könnte. Die Gefahr ist groß, dass angesichts eines engen Zeitbudgets der Auditor:innen eine Checkliste schnell abgehakt wird. Zudem finden die Stimmen der Beschäftigten nicht wirklich Gehör. Wenn sie überhaupt befragt werden, dann im Beisein von Aufsichtspersonen. Solche Gespräche müssten aber in einem geschützten Raum stattfinden. Am besten aber wäre es, es gäbe in jedem Betrieb Gewerkschaften, die in die Prüfungen einbezogen werden. Die könnten dann unabhängig berichten, wie es wirklich um die Arbeitsbedingungen steht.