Soziale Schieflagen

Wir sind mitten in einem Verteilungskampf. Die Kolumne „Gastwirtschaft“.
Im reichen Deutschland gibt es Armut für viele. Das kann niemand wirklich wollen. In seinen jüngsten Zahlen kommt das Statistische Bundesamt zu dem Ergebnis, dass mehr als ein Fünftel der Bevölkerung von Armut bedroht ist. Bekannt ist zudem: Die hohe Inflation trifft Arme stärker als Reiche.
Armut kann in konkreten Zahlen erfasst werden. Alleinlebende gelten hier als armutsgefährdet, wenn sie weniger als 1250 Euro netto haben – die Zahlen beziehen sich auf das Jahr 2022. Einkommensarmut dürfte auf viele ältere Menschen ebenso zutreffen wie auf Menschen mit geringem Erwerbseinkommen. Erwerbstätigkeit garantiert ohnehin keinen Reichtum.
Die Armut in Deutschland wird facettenreich analysiert, aber wenig nachhaltig bekämpft. Armut wird vererbt, das belegen viele Studien. Armut bedeutet geringere Bildungschancen. Gesellschaftlicher Aufstieg, gutbezahlte Erwerbsarbeit oder die Möglichkeit, Kapitaleinkommen zu generieren, werden systematisch erschwert.
Es gilt, diesen Kreislauf zu durchbrechen. Ein relativ einfaches, aber vieldiskutiertes Mittel wäre ein angemessener Mindestlohn. Dieser liegt aktuell bei zwölf Euro und führt direkt in die Altersarmut. Das ist alles andere als nachhaltig. Es ist auch nicht zukunftsorientiert. Es kann nicht sein, dass Unternehmen auf der Grundlage von Billiglohn hohe Gewinne erwirtschaften – und dies stumm toleriert wird.
Warum wird also bei aller Erkenntnis nicht entsprechend gehandelt? Offenbar weil dann eine systematische Umverteilung von „oben“ nach „unten“ im Wirtschaftssystem verankert werden müsste.
Würde dies den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands tatsächlich gefährden? Mittelfristig wohl kaum. Eher im Gegenteil. Die soziale Marktwirtschaft, an die sich einige noch erinnern, war ein Erfolgsmodell auf dem Weg zu mehr Wohlstand für alle.
Jetzt wird das „Wirtschaften“ neu diskutiert. Der Klimawandel erfordert eine gesellschaftliche Neuausrichtung. Nicht in Frage gestellt wird dabei die Gewinnorientierung der Unternehmen. Aber was ist mit den Menschen? Wir sind mitten in einem Verteilungskampf. Tatsächlich kommt aktuell vor allem den Gewerkschaften die wichtige Rolle zu, auf soziale Schieflagen hinzuweisen. Deutschland muss dankbar sein, dass es diese Stimme gibt.
Die Autorin ist Professorin für Volkswirtschaftslehre an der Hochschule Bremen.