Gerecht und vernünftig

Im 21. Jahrhundert muss der Sozialstaat modernisiert und ausgebaut werden. Die Sicherungssysteme sollten die großen Lebensrisiken wieder umfassend absichern.
Eine gute Pflege und armutsfeste Renten gibt es nicht umsonst. Das gilt besonders in Zeiten, in denen die Babyboomer in Rente gehen. Im heimischen Sozialversicherungsstaat werden Mehrausgaben in der Regel über höhere Beiträge finanziert.
Die Arbeitgeberverbände betrachten höhere Sozialbeiträge aber als Teufelszeug. Steigende Beiträge verteuern die Arbeitskosten und drücken die Gewinne. Deswegen wollen viele Firmenchefs die Sozialabgaben bei 40 Prozent des Einkommens deckeln. Die große Koalition zog diese Obergrenze in der Corona-Krise. Sie bezahlte pandemiebedingte Mehrausgaben für Gesundheit und Soziales mit Steuergeld, um die 40-Prozent-Marke nicht zu reißen. Die Scholz-Regierung hat diese sogenannte Sozialgarantie nicht erneuert. Das ist gut so. Beitragsgrenzen setzen die Sozialkassen unter Stress. Wenn der oberste Kassenwart die Finanzierungsnöte nicht lindert, drohen Rentenkürzungen, steigende Zuzahlungen beim Arzt oder höhere Eigenleistungen in der Pflege.
BDA, BDI & Co. klagen, dass hohe Sozialabgaben die preisliche Wettbewerbsfähigkeit gefährdeten. Steigende Beiträge seien ein Jobkiller. Diese steile These besteht keinen Praxistest. Die Lohnstückkosten – das Verhältnis von Produktivität und Arbeitskosten – stiegen seit der Jahrtausendwende im internationalen Vergleich nur unterdurchschnittlich. Folglich erzielte die deutsche Wirtschaft jedes Jahr Export- und Leistungsbilanzüberschüsse. Gleichzeitig wuchs die Beschäftigung. Eine Erhöhung der Sozialbeiträge würde daran nichts ändern.
Auch viele Beschäftigte sehen höhere Sozialversicherungsbeiträge kritisch. Schließlich erhalten sie auf den ersten Blick weniger Netto vom Brutto. Auf den zweiten Blick zeigt sich jedoch, dass mit den höheren Beiträgen ihre Rente, ihre Arztbehandlung, ihr Kranken- und Arbeitslosengeld finanziert werden. Die Arbeitgeberbeiträge sind zudem fester Bestandteil des Lohnes. Eine Beitragsobergrenze deckelt somit auch das Sozialeigentum der Beschäftigten.
Im 21. Jahrhundert muss der Sozialstaat modernisiert und ausgebaut werden. Die Sicherungssysteme sollten die großen Lebensrisiken wieder umfassend absichern. Wer alt oder chronisch krank ist oder seinen Job verliert, darf nicht in die Armut stürzen. Der Preis für mehr soziale Sicherheit sind auch höhere Sozialabgaben. Das ist das sozial gerecht und wirtschaftlich vernünftig.
Der Autor ist Chefökonom der Dienstleistungsgewerkschaft Verdi. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Das Gift der Ungleichheit“ (Dietz Verlag).