Fortschritt wagen

Wenn der sozial-ökologische Umbau des Landes gelingen soll, muss die Ampel die Verteilungsfrage stellen. Die Kolumne „Gastwirtschaft“.
Keine Atempause! Geschichte wird geschrieben. Eine Fortschrittsregierung lenkt jetzt das Land. Die Ampel kann das Land voranbringen, wenn der sozial-ökologischen Umbau gelingt. Die Scholz-Regierung hat sich sehr ehrgeizige Ziele gesetzt: Löhne und Renten, die zum Leben reichen, mehr Strom aus Wind und Sonne, schneller Kohleausstieg, bessere Bildung und Pflege sowie mehr bezahlbare Wohnungen.
Die Fortschrittskoalition kann sogar einen Blitzstart hinlegen. Der wirtschaftliche Ausblick ist trotz Pandemie rosig. Nächstes Jahr brummt wahrscheinlich die Wirtschaft, neue Jobs entstehen und die Steuern sprudeln. Gute Zeiten, um den Mindestlohn anzuheben, Tarifverträge zu stärken sowie öffentliche Investitionen und Ausgaben zu erhöhen.
Wer gut startet, ist aber noch nicht am Ziel. Der notwendige Ausbau der sozialen und physischen Infrastruktur unseres Landes erfordert eine große Kraftanstrengung. Bund, Länder und Kommunen müssten für einen leistungsfähigen ÖPNV, moderne Energie- und IT-Netze, gute Kitas, Schulen, Universitäten und Krankenhäuser jedes Jahr zusätzlich 50 Milliarden Euro investieren. Die gute Nachricht ist: Die Ampel kann auch mit Schuldenbremse kräftig investieren. SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP haben in den Koalitionsverhandlungen Wege gefunden, um die ökonomisch schädlichen Schuldenregeln zu umgehen. Entscheidend ist allein der politische Wille, diese Spielräume auch zu nutzen.
Damit aber nicht genug. Kitas, Schulen, Krankenhäuser, Pflegeheime, ÖPNV und Verwaltung brauchen mehr Personal. Armutsfeste Renten, eine Kindergrundsicherung, ein existenzsicherndes Bürgergeld und ein Weiterbildungsgeld gibt es nicht umsonst. Die Koalitionäre können diese milliardenschweren Mehrausgaben – im Gegensatz zu Investitionen – nicht mit der Kreditkarte bezahlen. Sie müssen Personal und Soziales aus den laufenden Einnahmen finanzieren. Die konjunkturbedingten Steuermehreinnahmen reichen dafür nicht aus. Die Ampel könnte die Finanzierungslücke aber jederzeit schließen, wenn sie große Einkommen und Vermögen stärker besteuert und Sozialversicherungsbeiträge erhöht.
Scholz, Habeck und Lindner wollen sozialen und ökologischen Fortschritt wagen. Wenn dieser Anspruch Wirklichkeit werden soll, muss die Ampel kräftig auf Pump investieren und die Verteilungsfrage stellen.
Der Autor ist Chefökonom der Gewerkschaft Verdi.