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Fukushima: Rückkehr in die Geisterstadt neben dem Atomkraftwerk

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Von: Felix Lill

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Viele Jahre lang Sperrgebiet: die verstrahlte Gemeinde Futaba, in die jetzt wieder Leben kommen soll.
Viele Jahre lang Sperrgebiet: die verstrahlte Gemeinde Futaba, in die jetzt wieder Leben kommen soll. © imago images/UPI Photo

Elf Jahre nach der Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima können die Menschen in den Ort zurückkehren. Viele halten das für verfrüht.

Fukushima – Für Tatsuhiro Yamane dürfte es einer der schönsten Jahresanfänge sein, die er je erlebt hat. Nach Jahren des Dekontaminierens, Konferierens und Überzeugens hat der Lokalpolitiker sein Ziel vor Augen. Endlich wird der 37-Jährige in seine Wahlheimat ziehen können, in der er schon so oft gewesen ist, aber nie wohnen durfte, mit deren Menschen er schon so viele Unterhaltungen geführt hat, auch wenn die meisten davon in einem anderen Ort stattfinden mussten. „Futaba wird wieder bewohnbar!“, heißt es seit Anfang des Monats offiziell.

In Japan ist es eine Sensation mit großer Symbolkraft. Elf Jahre nach der Reaktorkatastrophe im nordostjapanischen Fukushima beginnt vom 20. Januar an die schrittweise Rücksiedlung in jene Gemeinde, die auch der Standort des havarierten AKW Fukushima Daiichi gewesen ist. Nachdem am 11. März 2011 zuerst ein Erdbeben der Stärke 9,0 die Küstenregion erschüttert und dann ein Tsunami ganze Orte überschwemmt hatte, kam es im an der Küste gelegenen Atomkraftwerk zu Kernschmelzen in mehreren Reaktoren. In der schwersten Katastrophe der jüngeren Geschichte Japans starben um die 20.000 Menschen, Rund 470.000 Personen verloren ihr Zuhause. Bis heute gelten 39 000 offiziell als evakuiert.

Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima: Futaba wird über Nacht zur Geisterstadt

Zu den Orten, die als erste geräumt wurden, gehörten jene in unmittelbarer Nähe zur Kraftwerksruine. In Futaba wurde kurz nach dem Gau zwei Kilometer vom AKW-Gelände entfernt eine Strahlungsstärke von an die 25 Mikrosievert pro Stunde gemessen, also in etwa das Hundertfache dessen, was laut Regulierungen den Ort gerade noch bewohnbar gemacht hätte. Je weiter man sich vom Kraftwerk entfernte und ortseinwärts bewegte, desto geringer wurden die Werte. Eine Alternative zur vollen Evakuierung bestand hier aber von Anfang an nicht.

Von einst rund 7000 Menschen fiel die Bevölkerung über Nacht auf null. Für diverse weitere Orte im Umkreis von 30 Kilometern setzte sich der Begriff „Geisterstadt“ – auf Japanisch in Form des Anglizismus gosuto taun oder „ghost town“ – in den Köpfen des ostasiatischen Landes fest. Da war etwa Minamisoma, 25 Kilometer nördlich des AKW, wo eine Zeitlang nur noch die Feuerwehr die Stellung hielt. Oder der Ort Iitate, der zwar 40 Kilometer entfernt landeinwärts liegt, aber von einer radioaktiven Wolke erfasst wurde. Erst Wochen nach dem Gau wurde das Dorf evakuiert, der Bürgermeister regierte fortan von der Präfekturhauptstadt Fukushima-Stadt aus. Vielen Orten ging es ähnlich.

Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima: Der Ort wurde erst Wochen nach dem Gau evakuiert

Aber wohl keine Kommune wurde so hart getroffen wie Futaba. Ein Gang durch den verlassenen Ort im vergangenen Jahr offenbart dies auf den ersten Blick. „Da rechts war ein Lebensmittelgeschäft“, sagt Tatsuhiro Yamane im Vorbeifahren, als er ein zusammengekrachtes Gebäude mit streunenden Hunden passiert. „Da vorne war die Post.“ Auch die sieht nicht mehr aus wie ein Betrieb, von dem aus Briefe und Pakete abgefertigt werden könnten. „Wir werden noch nicht jetzt sofort umziehen“, sagt Tatsuhiro Yamane. „Weil wir noch kein Haus haben, das wir sofort bewohnen könnten.“ Sobald dies der Fall sei, werde er aber nach Futaba übersiedeln.

BezeichnungNuklearkatastrophe von Fukushima
Datum11. März 2011
UnfallartNuklearkatastrophe
UnfallortKernkraftwerk Fukushima Daiichi

Tatsuhiro Yamane ist ein ungewöhnlicher Bürger dieser noch nicht wieder bewohnten Gemeinde. Nach der Katastrophe kam der Tokioter als Aufbauhelfer her, sollte die Geschichten der Evakuierten dokumentieren, um eine Art öffentliches Gedächtnis zu institutionalisieren. „Die Erinnerungen beeindruckten mich so sehr, dass mir der Ort ans Herz wuchs.“ Yamane ließ sich zum Gemeinderatsmitglied wählen und lernte seine heutige Frau kennen, die aus Futaba stammt. Deren einstiges Haus ist bis heute eine Ruine. Das Paar mit zwei Kindern, das wie viele ehemalige Einwohner von Futaba derzeit in der eine Autostunde südlich gelegenen Großstadt Iwaki lebt, will schnellstmöglich hier ein neues Haus bauen.

Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima: Nur zehn Prozent der Evakuierten wollen zurückziehen

Wenn Futaba von diesem Donnerstag an wieder bewohnt werden kann, gilt dies noch nicht ohne Einschränkungen. Übernachtungen werden erlaubt sein, ein Aufenthalt für 24 Stunden aber noch nicht. Obwohl zur Dekontaminierung mehrfach Erdschichten abgetragen wurden, können immer wieder lokale Strahlenhotspots beobachtet werden. An den meisten Stellen im Ortsinneren liegen die Werte aber um 0,23 Mikrosievert pro Stunde und damit etwa so hoch wie auch in einigen europäischen Städten. Ab Juni sollen die noch bestehenden Aufenthaltsbeschränkungen dann endgültig fallen.

Allerdings sorgt die Kraftwerksruine, die zur Katastropheneindämmung noch immer mit Kühlwasser versorgt werden muss und vom Ortsinneren je nach Standort hinter einer Reihe von Bäumen auch sichtbar ist, weiterhin für Unbehagen. Kritikerinnen und Kritiker sowohl der nationalen Regierung als auch jener von Fukushima halten die Rückkehr für verfrüht. Eine Umfrage unter den Evakuierten hat ergeben, dass nur zehn Prozent zurückziehen wollen. Vor allem jüngere Familien haben schon anderswo neue Wurzeln geschlagen.

Eine völlig leblose Geisterstadt ist Futaba aber schon jetzt nicht mehr. Seit dem Frühjahr 2020 hält wieder ein Regionalzug, die Haltestelle wurde nach der Katastrophe neu gebaut. In der alten Ortschaft sieht man neue Wandmalereien. Einige Hundert Meter von der Bahnstation entfernt steht nahe der Hauptstraße auch wieder der Schrein der Gemeinde, den das Erdbeben schwer beschädigt hatte, für dessen Restaurierung aber bald Geld gesammelt wurde. Und jährlich am Silvesterabend, wenn die Menschen in Japan traditionell für ein erfolgreiches neues Jahr beten, kommen auch Hunderte Evakuierte an diese heilige Stelle von Futaba.

Katastrophe im Kernkraftwerk von Fukushima: Das Museum ist schon jetzt ein Publikumsmagnet

An der Küste, wo einst die vom Tsunami verschluckten Häuser standen, steht seit kurzem ein Museum, das die Katastrophe dokumentiert. Finanziert ist es auch von der Atombranche, eine wirklich kritische Aufarbeitung der grundsätzlichen Gefahren der Energiequelle – von Fragen der Risiken bis zur Endlagerung – findet hier kaum statt. Das Unglück wird auf menschliche Fehler reduziert. Dennoch ist das Museum bereits ein Magnet für Tagesbesucher:innen, die die nationale Tragödie, die von hier ihren Lauf nahm, nicht vergessen wollen.

Kurz vor Beginn der Pandemie begann der Lokalpolitiker Tatsuhiro Yamane auch mit dem Plan, die eingeschlafene Wirtschaft des Orts wieder zum Leben zu erwecken. Er gründete eine Firma, die Walking Tours auf Japanisch und Englisch durch Futaba anbietet und die Zeit vor und nach der Katastrophe erzählt. „Darin steckt bestimmt Potenzial“, glaubt Yamane.

Werden erst die pandemiebedingten Reisebeschränkungen gelockert, könnten weitere Betriebe den Versuch wagen, den Makel der Atomkatastrophe in eine Chance umzumünzen. Seit vergangenem Jahr hat auch eine Gruppe von zehn Bauern begonnen, in Futaba wieder versuchsweise Reis zu säen. 2025, so die Hoffnung, will die Stadt wieder essbaren Reis verkaufen. (Felix Lill)

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