Früher in Rente mit einem Schwerbehindertenausweis? Expertin erklärt, warum das nicht so einfach ist
Mit einem Schwerbehindertenausweis hat man Anspruch auf den Ausgleich von Nachteilen. Doch bis der entsprechende Antrag genehmigt wird, ist es häufig ein langer und steiniger Weg.
Berlin – In der EU gibt es fast 87 Millionen Menschen, die eine Schwerbehinderung haben. Die Art der Behinderung kann dabei ganz unterschiedlich ausfallen: Es gibt Menschen, die geh- oder sehbehindert sind, manche haben eine schwere Krankheit wie Krebs oder Rheuma, andere leiden an psychischen Beschwerden wie Depressionen.
Um das Leben von Schwerbehinderten zu vereinfachen, gibt es den Schwerbehindertenausweis. Damit bekommen diese Menschen Nachteilsausgleiche und Leistungen, die das Leben erleichtern sollen. Doch wie Anieke Fimmen vom Sozialverband Deutschland erklärt, ist es nicht immer so leicht, den Ausweis tatsächlich auch zu erhalten.
Antrag auf Schwerbehinderten-Ausweis kann Monate oder sogar Jahre dauern
Entscheidend für einen Antrag auf Schwerbehinderung ist zunächst der Grad der Behinderung (GdB), der von einem Arzt oder einer Ärztin festgestellt werden kann. Ab einem GdB von 50 gilt man als schwerbehindert und kann somit einen Schwerbehindertenausweis bekommen. Der niedrigste GdB ist 20, der höchste 100. Nach dem Gespräch beim Arzt oder bei der Ärztin kann der Antrag beim örtlichen Versorgungsamt gestellt werden. Dort wird entschieden, ob der Ausweis ausgestellt wird.
Soviel zur Theorie. In der Praxis ist es aber komplizierter. „Das Zermürbende daran ist, dass es sich manchmal über Monate oder sogar Jahre ziehen kann, bis man den Ausweis hat“, berichtet Anieke Fimmen. Beim Sozialverband Deutschland ist sie Referentin für Behindertenpolitik, spricht also auch immer wieder mit Betroffenen, die den Gang zum Amt gut kennen. „Ich habe beispielsweise neulich mit einer älteren Frau gesprochen, die mir gesagt hat, dass sie doch nur sicher über den Parkplatz kommen will und einen Behindertenparkplatz nutzen möchte“.

Aus Sicht der Expertin gibt es zwei Hauptgründe, warum es häufig so lange dauert. Zum einen müssten „viele Räder ineinander greifen“. So müssten Betroffene mit einem Arzt oder einer Ärztin sprechen, denen sie vertrauen. Denn beim Antrag auf Schwerbehinderung zählt nicht nur die Krankheit oder die Behinderung an sich. „Man muss erklären, wie sich das auf das gesamte Leben auswirkt,“ so Fimmen.
Wer etwa an Rheuma leidet, erhält nicht wegen der Diagnose einen Schwerbehindertenausweis. Stattdessen muss der oder die Betroffene beispielsweise erklären, nicht länger als halbtags arbeiten zu können oder unter einem stark gestörten Schlaf zu leiden. Je konkreter, desto besser.
Überlastung der Versorgungsämter Teil des Problems
Man muss sich also mit einem Arzt oder einer Ärztin offen unterhalten können. Diese Person kann dann ein Dokument ausstellen, auf dem die Feststellung einer Schwerbehinderung empfohlen wird. Damit müssen Betroffene dann zum Versorgungsamt, wo der offizielle Antrag gestellt wird. Je nach Personallage kann die Bearbeitung dann dauern. „Das Amt sitzt vor einem Berg an Akten und sieht die Person nicht“, so Anieke Fimmen.
Idealerweise rufen die Gutachter im Versorgungsamt bei Unklarheiten auch nochmal bei der betroffenen Person an und sprechen direkt mit ihnen. „Das müssen sie aber nicht tun. Gute Gutachter tun das zwar. Aber verpflichtend ist es nicht“, sagt die Expertin. Wenn dann auch noch Personalmangel herrscht oder der Aktenberg zu groß wird, kann es schon sein, dass Entscheidungen einfach auf Basis der Akten gefällt werden. „Das ist für Betroffene natürlich dann sehr bitter“.
Rat der Expertin: Im Zweifel auch mal den Arzt wechseln
Der zweite Grund, warum aus Sicht von Anieke Fimmen die Schwerbehindertenausweise so schwer zu kriegen sind, liegt an der Scham. Wer Angst vor dem „Stempel“ der Schwerbehinderung hat, ist vielleicht nicht ehrlich mit seinem Arzt oder seiner Ärztin. Damit können sie kein akkurates Bild abgeben, sodass die Versorgungsämter im Zweifel gegen den Betroffenen entscheiden. Und dann beginnt alles wieder von vorne.
Anieke Fimmen rät Betroffenen zwei Dinge: „Das erste Gespräch mit dem Arzt ist das Einfallstor. Der Arzt ist der Anwalt der Betroffenen!“ Man sollte sich auch nicht scheuen, im Zweifel den Arzt oder die Ärztin zu wechseln, wenn das Vertrauen nicht da ist. Und dann rät sie noch, sich beraten zu lassen. Es gibt zahlreiche soziale Einrichtungen und Träger, die sich sehr gut mit dem Prozess auskennen. „Das hilft auch oft, die Märchen vor dem Antrag aufzuklären“, sagt die Expertin.
Schließlich betont Anieke Fimmen, wie wichtig und hilfreich es sein kann, die Nachteilsausgleiche auch wirklich in Anspruch zu nehmen. Mit einem Schwerbehindertenausweis kann man beispielsweise mehr Urlaub bekommen, früher in Rente gehen, kostenlos mit der Regionalbahn fahren oder einen Parkausweis bekommen. Das kann betroffenen Menschen das Leben zumindest etwas erleichtern.