Mit Behinderung auf dem Arbeitsmarkt: Inklusion mit Handbremse

Die Ampel-Koalition möchte den Zugang zum allgemeinen Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderungen erleichtern. Der eingebrachte Gesetzentwurf lässt aber noch Lücken offen.
Arbeitsminister Hubertus Heil zeigt sich überzeugt: „Die Zeit für Ausreden muss vorbei sein.“ Damit meint er die, es wäre zu kompliziert oder zu teuer, Menschen mit Behinderungen am allgemeinen Arbeitsmarkt zu beschäftigen. Der von der Ampel-Koalition eingebrachte Gesetzentwurf zur Förderung eines inklusiven Arbeitsmarkts wurde Anfang März erstmals im Bundestag besprochen. Es sei „ökonomischer Unfug“ und „sozial ungerecht“, Potenziale der Menschen mit Behinderung, die einen Job suchen, nicht zu erkennen, so Heil bei der ersten Lesung des Entwurfs.
Im März 2023 waren laut der Bundesagentur für Arbeit 166 001 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet. Damit lag die Arbeitslosenquote im Verhältnis etwa doppelt so hoch wie jene von Menschen ohne Behinderung im gleichen Zeitraum. Dabei finden sich unter behinderten Menschen, die derzeit nach Arbeit suchen, anteilig mehr Personen mit abgeschlossener Berufsausbildung als unter nicht behinderten Arbeitssuchenden.
Der Gesetzentwurf sieht unter anderem vor, die sogenannte Ausgleichsabgabe zu erhöhen. Diese müssen diejenigen Arbeitgeber zahlen, die trotz Beschäftigungspflicht keinen einzigen schwerbehinderten Menschen beschäftigen. Betriebe mit 20 oder mehr Beschäftigten sind eigentlich dazu verpflichtet, fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Menschen mit einer Schwerbehinderung zu besetzen. Ziel der Erhöhung der Abgabe ist es, mehr Unternehmen dazu zu bringen, die Beschäftigungszahl zu erhöhen. Laut einer Statistik der Bundesagentur für Arbeit lag der Anteil der Arbeitgeber, die alle gesetzlich vorgeschriebenen Pflichtarbeitsplätze besetzen, 2022 bei nur 39,5 Prozent.
Es seien zwar gute Ansätze dabei, aber der große Sprung in Sachen Inklusion sei der Entwurf nicht, so Ottmar Miles-Paul, Sprecher der Liga Selbstvertretung. Die Liga ist die politische Interessenvertretung verschiedener Selbstvertretungs-Organisationen behinderter Menschen in Deutschland. „Es wird Gas gegeben, aber die Handbremse ist dabei sofort angezogen“, so Miles-Paul. Er begrüßt die geplante Erhöhung der vierten Staffel der Ausgleichsabgabe von monatlich 360 Euro je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz auf 720 Euro. Insgesamt sieht er sie aber als immer noch zu niedrig angesetzt. Außerdem bemängelt er die weiterhin geltenden Sonderregelungen für kleinere Unternehmen mit bis zu 40 und 60 Beschäftigen. Für die soll es geringere Erhöhungen der Ausgleichsabgabe geben. „Wir schätzen, dass das ungefähr 90 Prozent der Betriebe betrifft“, so der Liga-Sprecher. Tatsächlich gibt das Arbeitsministerium an, dass unter den etwa 45 000 der sogenannten Nullbeschäftiger nur knapp 4000 über der Grenze von 60 Beschäftigten liegen und damit von den höchsten Anpassungen überhaupt betroffen wären.
Menschen mit Behinderung haben es auf dem Arbeitsmarkt nicht einfach
Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) beschreibt in ihrer Stellungnahme zum Gesetzentwurf die vierte Staffel der Ausgleichsabgabe dagegen als „kein taugliches Mittel für mehr Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen“. Es stehe dabei vielmehr ein „Strafgedanke“ im Vordergrund, heißt es dort. Bei einer Anhörung zum Gesetzentwurf vor dem Ausschuss für Arbeit und Soziales Ende März zeigte sich Olivia Trager vom BDA überzeugt, dass die Beschäftigung nicht am Willen der Unternehmen scheitere. Höhere Abgaben würden eher dazu führen, dass die Wirtschaft insgesamt stärker belastet werde.
Während noch zu viele Unternehmen die gesetzlichen Vorgaben zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung nicht erfüllen, haben sogenannte Inklusionsunternehmen ein anderes Konzept: Sie stellen mindestens 30 Prozent, in manchen Fällen auch bis zu 50 Prozent Beschäftigte mit Behinderung ein. Bei diesen wirtschaftlich arbeitenden Unternehmen soll der Fokus laut Claudia Rustige, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Inklusionsfirmen, vor allem auf den Menschen mit Behinderungen liegen, die sonst stark vom allgemeinen Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, also auch auf Menschen mit einem geringeren Bildungs- und Qualifizierungsniveau. Inklusionsunternehmen gibt es in den unterschiedlichsten Branchen: Wäschereien, Catering-Firmen oder Landschafts- und Gartenbaubetriebe. „Was alle diese Unternehmen eint, ist, dass neben Fachkräften auch ein hoher Anteil an Hilfskräften benötigt wird.“ Und das lasse sich wunderbar kombinieren mit der Qualifizierung der Menschen. „Die Beschäftigten mit Behinderung sind dort immer voll sozialversicherungspflichtig angestellt und werden je nachdem, ob sie Fachkraft sind oder nicht, gleich entlohnt wie Beschäftigte ohne Behinderung.“
Wie sinnvoll sind Werkstätten für behinderte Menschen?
Anders ist das bei Werkstätten für behinderte Menschen (WfbM): Dort stehen die Beschäftigten in einem nur arbeitnehmerähnlichen Verhältnis und haben somit auch keinen Anspruch auf Mindestlohn. Änderungen an diesem System sind in dem derzeitigen Gesetzentwurf noch nicht vorgesehen. Eine Sprecherin des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS) bestätigte der FR aber, dass zu einem späteren Zeitpunkt, aber noch in dieser Legislaturperiode auch Änderungen in diesem Bereich umgesetzt werden sollen. Ziel sei „ein transparentes, nachhaltiges und zukunftsfähiges Entgeltsystem“. Mit derzeit durchschnittlich 220 Euro monatlich könnten die Menschen mit ihrer Arbeit in den Werkstätten ihren Lebensunterhalt nicht stemmen und seien somit auf Grundsicherung angewiesen, obwohl sie arbeiten, kritisiert Liga-Sprecher Miles-Paul.
Bei der Betrachtung der Arbeitslosenzahlen denkt Miles-Paul deswegen auch die etwa 320 000 behinderten Menschen, die in Werkstätten arbeiten. Denn diese Menschen bekämen oft keine Alternative auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Die Vermittlungsquote von einer Werkstatt auf den allgemeinen Arbeitsmarkt liegt unter einem Prozent.
Werkstätten für behinderte Menschen als „menschenrechtlich äußerst bedenkliches System“
Miles-Paul attestiert den Werkstätten ein „menschenrechtlich äußerst bedenkliches System“ und verweist auf die Staatenprüfung von 2015, in der die Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland überprüft wurde. Artikel 27 der UN-Behindertenrechtskonvention regelt das Recht auf Arbeit auf der Grundlage der Gleichberechtigung. Dort heißt es: „Jeder Mensch hat die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdienen, die frei gewählt oder frei angenommen wird.“ Der letzte Bericht der Staatenprüfung stellte aber fest, dass der Lebensunterhalt mit der Arbeit in Werkstätten nicht bestritten werden kann. Die WfbM würden den Übergang zum allgemeinen Arbeitsmarkt außerdem nicht vorbereiten oder fördern, heißt es in dem Bericht weiter, weswegen empfohlen wurde, die Werkstätten schrittweise abzuschaffen.
Während kritische Stimmen die Werkstätten als wenig bis gar nicht inklusiv beschreiben, sieht die Bundesarbeitsgemeinschaft Werkstätten für behinderte Menschen (BAG WfbM) in dieser Argumentation einen Denkfehler. Der allgemeine Arbeitsmarkt sei in seiner jetzigen Form nicht bereit oder in der Lage, alle Menschen mit Behinderungen aufzunehmen, so eine Sprecherin auf FR-Anfrage. „Es ist also eher so, dass Werkstätten Inklusion erst ermöglichen, weil die Menschen sonst keine Chance auf Arbeit hätten“, so die Beurteilung der Bundesarbeitsgemeinschaft. Die Werkstattleistung sei vielmehr ein Nachteilsausgleich für die Menschen. Es gäbe aber durchaus Verbesserungsbedarf. Die BAG WfbM setze sich für eine Reform des Entgeltsystems ein. Außerdem müsse ein Ziel sein, die Werkstätten als „Teil eines inklusiven Arbeitsmarktes im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention weiterzuentwickeln und die Arbeit der Werkstattbeschäftigten als Teil der Arbeitswelt anzuerkennen“. Die nächste Staatenprüfung ist für diesen Sommer geplant.
Miles-Paul empfindet den Fortschritt insgesamt als zu langsam, denn die Kritik am Werkstätten-System sei ja nicht neu. Und auch bei der Umsetzung einer funktionierenden Inklusion am allgemeinen Arbeitsmarkt sieht er Handlungsbedarf: „Wir reden dauernd von Personalmangel. Da kann es nicht sein, dass behinderte Menschen bei der Jobsuche immer noch auf die individuelle Einstellung von Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern angewiesen sind. Wir brauchen endlich eine echte Gleichstellungspolitik.“ Zunächst wird aber am 22. April über den derzeitigen Gesetzentwurf im Bundestag abgestimmt.
Mehr Infos zum Arbeitsmarkt gibt es auf www.fr.de/frax.