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Der Streik ist wichtig und setzt ein Zeichen gegen die Verarmung

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Von: Steffen Herrmann

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Auch viele Straßenbahnen werden in den Depots bleiben.
Auch viele Straßenbahnen sind in den Depots geblieben. © Imago

Mit ihrem Streik setzen die Gewerkschaften ein Zeichen: Nicht nur für das Ende der Bescheidenheit wegen Corona, sondern auch für den Kampf gegen die Verarmung.

Sie haben es geschafft und das ganze Land lahmgelegt. Zehntausende Beschäftigte bestreikten am Montag Bahnhöfe, Flughäfen, und auch Autobahnen. Der gemeinsame Warnstreik von EVG und Verdi hat den beiden Gewerkschaften viel Aufmerksamkeit beschert. Er dominiert seit Tagen die öffentliche Debatte und ist Thema an vielen Küchentischen. Dürfen die das? Fragen die einen. Endlich passiert mal etwas, sagen die anderen.

Klar ist: Der gemeinsame Warnstreik ist ungewöhnlich, aber er ist legal und er ist legitim. Beide Gewerkschaften fordern deutlich mehr Geld. Die Höhe der Forderungen relativiert sich aber, wenn man neben der Inflation auch die Zurückhaltung der Beschäftigten während der Pandemie einrechnet.

Damals akzeptierte die EVG zum Beispiel ein mickriges Lohnplus von 1,5 Prozent. Es war ein Zeichen der Bescheidenheit in einer Krise, von der man nicht wusste, wie sehr sie sich noch ausweiten würde. Die Folge für die Beschäftigten: deutliche Reallohnverluste, weniger Geld in der Tasche. Das muss die EVG-Führung um ihren seit Oktober amtierenden Chef Martin Burkert nun aufholen. Ihre oft schlecht bezahlten Mitglieder brauchen mehr Geld – ein erneuter billiger Tarifabschluss ließe sich nicht mehr vermitteln.

Streik als Zeichen der Stärke

Mit dem Megastreik am Montag setzen die beiden Gewerkschaften deshalb ein Zeichen der Stärke, und zwar eines, das nach Innen und Außen wirken soll. Ihren Mitgliedern und denen, die es werden könnten, soll er zeigen, dass Verdi und EVG beim Einsatz für ihre Interessen vor Konflikten nicht zurückscheuen. Den Arbeitgebern und der Politik soll er klar machen: Mit den Beschäftigten ist zu rechnen; sie sollten einbezogen werden – und zwar auch dann, wenn es nicht nur um höhere Löhne, sondern zum Beispiel um die Verkehrswende geht.

Beide Gewerkschaften blicken mit dem Streik auch auf die zweite Hälfte des Jahres: Im September lädt Verdi zum alle vier Jahre stattfindenden Bundeskongress ein und wählt seine Führung. Verdi-Chef Frank Werneke und seine Vize Christine Behle wollen wiedergewählt werden. Dafür brauchen sie Tarifabschlüsse mit ordentlichen Gehaltssteigerungen. Und auch mit den vielen neuen Mitgliedern – rund 70 000 sollen es bei Verdi seit Jahresbeginn sein – kann man Wahlkampf machen.

Beschäftigte der Bahn und des öffentlichen Dienstes streiken

Die EVG wiederum liefert sich ein Fernduell mit der viel kleineren, aber streikfreudigeren Lokführergewerkschaft GDL. Deren Verhandlungen stehen im Herbst an. GDL-Chef Claus Weselsky, für den es wohl die letzte Tarifrunde sein wird, will sich mit einem guten Abschluss verabschieden.

Zurück zum Megastreik am Montag. Das Zeichen ist gesetzt, in den Tarifrunden muss nun eine schnelle Einigung her. Für die Beschäftigten, die mit den Inflationsfolgen kämpfen, für den öffentlichen Dienst und die Bahn, die vor großen Herausforderungen stehen, und auch für die Bevölkerung, der ein lang andauerndes Ringen immer schlechter zu verkaufen sein wird.

Verständnis für Streik und Lohnforderungen

Das heißt nicht, dass kein Verständnis für die Lohnforderungen da ist. Im Gegenteil: Anders als manchen Konservativen oder den Arbeitgebern ist den meisten Menschen klar, dass die Beschäftigten in den Stellwerken, bei der Feuerwehr und bei der Straßenreinigung ein anständiges Gehalt verdienen müssen, sonst wird die Flucht in andere Berufe und Branchen zu einem immer größeren Problem. Im öffentlichen Dienst fehlen rund 360 000 Beschäftigte, bis 2030 könnten es eine Million sein. Viele Stellen bleiben auch offen, weil der Lohn kaum für ein Leben in den Großstädten reicht.

Armut und Reichtum sind in den öffentlichen Debatten aber praktisch kein Thema. Vor allem in den sozialen Medien regen sich einige Kommentatoren stattdessen darüber auf, dass die Bahn an einem Tag des Jahres nicht fährt. An das Bild von Menschen, die im Müll nach Pfand wühlen müssen, hat man sich gewöhnt.

Gestreikt wird für diese Menschen zwar nicht. Aber es wäre wünschenswert, wenn sich an der aktuellen Streikwelle eine Diskussion entzündet, die über gute Tarifabschlüsse für einzelne Berufsgruppen und Branchen hinausreicht. Eine Diskussion über Armut, die sich nicht auf kurze Talkshow-Momente beschränkt, über Reichtum und eine gerechtere Verteilung von Vermögen.

Die Solidarität mit den Beschäftigten bei der Bahn und im öffentlichen Dienst kann ein erster Schritt in diese Richtung sein. Gefordert ist dann auch die Politik, etwa wenn es um eine Vermögen- und Erbschaftssteuer geht. DGB-Chefin Yasmin Fahimi hat diese Verbindungen während einer Streikkundgebung in München bereits gezogen: „In diesem Land ist genug Geld da, es muss nur fairer verteilt werden.“

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