Frankreich protestiert

In mehr als 300 Städten gehen die Menschen auf die Straße. Dabei kocht schon auch mal der Zorn hoch.
Früh übt sich, wer an den Ruhestand denkt. Vor dem Lyzeum Racine im schicken achten Stadtbezirk von Paris haben Schülerinnen und Schüler schon um sieben Uhr Stellung bezogen. Den Zutritt versperren sie mit Mülltonnen. Einige schießen mit ihrem Handy Bilder. Sie schicken sie an den linken Abgeordneten Louis Boyard, der 22 Jahre alt ist und am Dienstag einen „blocus challenge“ organisiert: Wer das schönste Foto einer Schulblockade übermittelt, wird von der Parteifraktion der „Insoumis“ („Unbeugsamen“) zu einem Besuch der Nationalversammlung eingeladen.
Die Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, empört sich via Twitter: „Politik ist doch kein Tiktok-Wettbewerb.“ Die Vertraute von Präsident Emmanuel Macron erinnert an die chaotischen Szenen im Parlament, wo die bisherige Rentendebatte durch Zwischenrufe, Verbalattacken und Blockade von links chaotisch verlief. Die geplante Erhöhung des Rentenalters von 62 auf 64 Jahre ist deshalb bis heute nicht abgesegnet.
Macron weiß: Am Ausgang der Rentenreform, seinem zentralen Wahlversprechen zweier Amtszeiten, hängt sein eigenes Schicksal. Unpopulärer denn je, hält er sich bedeckt, um den Gegnern keine zusätzliche Angriffsfläche zu bieten. Dafür werfen seine Minister:innen den Gewerkschaften vor, sie brächten die Landeswirtschaft zum Erliegen. Die Gewerkschaft CGT beeindruckt dies wenig: Sie lässt am Dienstagmorgen stolz verlauten, sie habe die Zufahrten zu sämtlichen Raffinerien Frankreichs gesperrt. Und das nicht nur für einen Tag.
Protest gegen Rentenreform: Busse und Bahnen in Frankreich stehen still, Flieger bleiben am Boden
Viele U-Bahnen, Vorstadt- und Fernzüge stehen an diesem Dienstag weitgehend still. Wer kann, arbeitet im Homeoffice. Und auch viele Flüge fallen aus. Am Flughafen Nantes ruft eine Passagierin in eine TV-Kamera: „Diese Streikenden sollten sich mal im Ausland erkundigen, wo das Rentenalter bei 65 Jahren liegt. Armes Frankreich!“
So denken aber laut Umfragen nur 30 Prozent der Franzosen und Französinnen. Die Reformgegner können sich auf eine klare Mehrheit stützen. Sogar Autofahrer:innen, die in Carvin (Nordfrankreich) in eine Straßensperre der Fernfahrer geraten sind, rufen den Streikenden Durchhalteparolen zu. Ein Flugblatt der CGT verweist auf den Umstand, dass die französischen Großfirmen für das abgelaufene Jahr 56,5 Milliarden Euro an Dividenden ausschütten. „Die verdienen ihr Geld im Schlafen – und wir sollen länger arbeiten!“, schimpft der CGT-Mann Benjamin Amar in einer morgendlichen Talkshow, und der Moderator sagt, er teile seine Ansicht, obwohl er sonst für die liberale Marktwirtschaft sei.
Macron soll die Rentenreform „bedingungslos zurückziehen“
Insgesamt schlagen die Gewerkschaften, so entschlossen sie sind, einen betont ruhigen Ton an. Laurent Berger von der CFDT und Philippe Martinez von der CGT, die ausnahmsweise am gleichen Strang ziehen, wollen die schweigende Mehrheit hinter ihnen nicht aufs Spiel setzen. Denn sie wird letztlich darüber befinden, ob Macron sein Vorhaben „bedingungslos zurückziehen“ muss, wie Martinez fordert.
Vorläufig trumpfen die Reformgegner auf: Am Dienstagnachmittag geht in über 300 Städten und Orten schätzungsweise mehr als eine Million Menschen auf die Straße. Eine eindrückliche Mobilisierung, und dies zum fünften Mal seit Januar. Aber es gibt auch andere Szenen: In Rennes, der Metropole der Bretagne, randalierten Vermummte die ganze Nacht über; sie zerstörten Läden, schmierten ihre Devise „Krawall“ auf die Hausmauern und lieferten sich mit der Polizei Straßengefechte.
Solche unschönen Bilder schaden der Protestbewegung. Und wenn Macron hart bleibt, ist mit einer weiteren Radikalisierung zu rechnen. Prophylaktisch schieben sich Regierung und Gewerkschaften bereits gegenseitig die Verantwortung zu, falls die Lage eskalieren sollte. An der Pariser Demo ruft ein Graffiti zur „révolution“. Und das ist in Frankreich keine bloße Floskel.