Kampf gegen Kinderarbeit: Flexibler Unterricht statt Ausbeutung in Minen

Die Corona-Pandemie lässt die Zahl arbeitender Kinder weiter steigen. Betroffene wollen auf der ILO-Weltkonferenz in Südafrika für ihre Rechte eintreten.
Pretoria/Lausanne – Vor der Abriegelung unseres Dorfes war alles in Ordnung“, sagt der Zwölfjährige aus einem indischen Dorf. Mani, wie wir ihn nennen, weil sein richtiger Name aus Sicherheitsgründen nicht publik werden soll, konnte die Schule besuchen und danach mit anderen Kindern spielen. Mit Beginn der Corona-Pandemie änderte sich für den Jungen alles. Zu Hause wurden die Lebensmittel knapp, es gab nur noch „maad bhatt“ (Reis mit Wasser). Viele Wanderarbeiter, die ihren Job verloren hatten, kamen zurück in die Dörfer. Jetzt mussten vielfach die Kinder ran, um das Überleben der Familien zu sichern.
„Ich ging zum Glimmerabbau“, erzählt Mani. In bis zu 20 Meter tiefen, ungesicherten Schächten graben Minderjährige dabei nach dem Mineral Mica, das aufgrund seines Perlmuttschimmers und der Leitfähigkeit in Kosmetika und Elektronikprodukten verwendet wird.
Kinderarbeit: Viele Mädchen und Jungen kommen nicht mehr in die Schulen zurück
Die Erfahrungen des Jungen sind in die Fallstudien für den Kinderarbeits-Report 2022 der Hilfsorganisation Terre des Hommes (TDH) eingegangen, der der Frankfurter Rundschau exklusiv vorliegt. „Für Millionen Kinder bedeutet Covid-19 Hunger, Armut und das Ende von Bildungschancen“, lautet das Fazit der Studie, für die TDH beispielhaft in Indien und Peru recherchiert hat. Dabei lässt der Report die Identität und genauen Wohnorte der zitierten Minderjährigen im Unklaren, weil es gefährlich werden kann, Kinderrechtsverletzungen öffentlich zu machen.
Die jüngsten globalen Schätzungen zu arbeitenden Kindern beruhen noch auf Haushaltsbefragungen aus der Zeit vor der Corona-Pandemie. Damals berichteten Unicef und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), dass die Zahl der Mädchen und Jungen, die arbeiten müssen, im Zeitraum von 2016 bis 2020 von 152 auf 160 Millionen angestiegen ist. In ihrem Bericht vom Sommer 2021 warnen Unicef und ILO, dass infolge der Pandemie weltweit bis zu 206 Millionen Kinder gezwungen sein könnten, zum Einkommen der Familien beizutragen. 50 Prozent davon aller Erfahrung nach mit einer gefährlichen Beschäftigung wie in den Micaminen oder auf Kakaoplantagen.
KINDERARBEIT
Tätigkeiten , für die Kinder zu jung sind, die gefährlich oder ausbeuterisch sind, die die körperliche oder seelische Entwicklung schädigen oder vom Schulbesuch abhalten, sind laut Definition Kinderarbeit.
Die Vereinten Nationen zählen laut der ILO-Konvention 182 zu den „schlimmsten Formen der Kinderarbeit“: Sklaverei und sklavenähnliche Abhängigkeiten, Zwangsarbeit einschließlich des Einsatzes von Kindersoldat:innen, Kinderprostitution und Kinderpornografie, kriminelle Tätigkeiten wie den Missbrauch von Kindern als Drogenkuriere sowie andere Formen der Arbeit, die die Sicherheit und Gesundheit der Kinder gefährden.
Fast alle Staaten der Welt haben sich mit der UN-Agenda 2030 auf das Ziel geeinigt, jegliche Form der Kinderarbeit abzuschaffen. Für die schlimmsten Formen soll das bis zum Jahr 2025 vollständig erreicht werden.
In Südafrika findet vom 15. bis 20. Mai die 5. Weltkonferenz zur Beseitigung von Kinderarbeit statt. In Durban ist dabei auch erstmals ein Kinderforum mit Delegierten aus einer Vielzahl von Ländern geplant.
Gewerkschaften von Kindern und Jugendlichen kämpfen für ihre Rechte und menschenwürdige Arbeitsbedingungen. In Afrika gibt es beispielsweise den Dachverband „African Movement of Working Children and Youth“, in Lateinamerika das „Movimiento Latinoamericano y del Caribe de Niñas, Niños y Adolescentes Trabajadores“. tos
Kinderarbeit: Delegierte Mädchen und Jungen melden sich auf der ILO-Konferenz zu Wort
Die TDH-Studie belegt die sich verschärfende Entwicklung. „Wir sehen einen alarmierenden Anstieg an ausbeuterischer Kinderarbeit in unseren Projektregionen“, stellt TDH-Vorstandssprecher Beat Wehrle fest. Die für den Report befragten Kinder berichteten, dass sie die Einkommensausfälle ihrer Eltern kompensieren müssten. Bittere Konsequenz: Viele hätten nach langen Schulschließungen den Anschluss verloren und würden nicht mehr in den Unterricht zurückkehren. Zudem sei für Mädchen in Indien das Risiko gestiegen, früh verheiratet zu werden, da die Familien sich ihre Versorgung nicht mehr leisten können.
„Die Staatengemeinschaft muss Maßnahmen beschließen, die es den Ärmsten ermöglichen, mit den Konsequenzen von Covid-19 zu leben und wirtschaftlich und sozial wieder Fuß zu fassen“, fordert Wehrle im Vorfeld der 5. ILO-Weltkonferenz zur Beseitigung von Kinderarbeit, deren Gastgeber von Sonntag an Südafrika ist. In Durban sollen dabei auch erstmals arbeitende Mädchen und Jungen selbst eine Stimme bekommen.
Forum gegen Kinderarbeit in Südafrika: Betroffene in Politikprozesse einbeziehen
Geplant ist ein Kinderforum mit etwa 60 Beteiligten aus Südafrika und anderen Staaten. Das Hilfswerk TDH entsendet fünf Delegierte seines globalen Kinderkomitees. „Sie sollen mit den Vertreter:innen der Regierungen ins Gespräch kommen und ihre Positionen in die Weltkonferenz einbringen“, sagt Wehrle.
Antje Ruhmann, TDH-Kinderrechtsreferentin, die in die Vorbereitungen für Durban involviert ist, hält es für einen großen Fortschritt, dass betroffene Kinder „nun auch auf internationaler Ebene in Politikprozesse einbezogen werden“. Denn noch immer mangele es an einer „differenzierten Sicht auf Kinderarbeit“, für die das Hilfswerk schon lange eintritt. „Ausbeuterische und gefährliche Arbeit muss konsequent bekämpft werden“, sagt Ruhmann. Leichte Formen der Beschäftigung unter menschenwürdigen Bedingungen aber seien zu tolerieren. „Denn damit finanzieren Mädchen und Jungen oft die Kosten für die Schule, können von ihrem Lohn Uniform und Materialien kaufen.“ Nur so könnten sie sich aus dem Teufelskreis der Armut befreien.
Kinderarbeit: Minderjährige fordern „mehr Wertschätzung“ für ihre Leistung
Für eine Anerkennung ihrer Arbeit und Leistung kämpfen in Südamerika, Afrika und Asien seit Jahren auch in Kindergewerkschaften organisierte Mädchen und Jungen. Sie wehren sich gegen ihre Kriminalisierung – wie etwa in Peru, wo die Behörden repressiv gegen minderjährige Straßenverkäufer:innen vorgehen und ihnen ihre Waren wegnehmen.
„Wir müssen zwischen Kinderarbeit und arbeitenden Kindern unterscheiden“, zitiert der TDH-Report die Mitarbeiterin einer peruanischen NGO. „Es sind zwei sehr unterschiedliche Konzepte, denn das eine stigmatisiert Kinder und Jugendliche, die arbeiten, während das andere das Subjekt, die Kinder, in den Vordergrund stellt.“ Eine 16-Jährige aus Peru fordert denn auch „mehr Wertschätzung“ für Minderjährige, die zum Lebensunterhalt ihrer Familien beitragen.
Maßnahmen gegen Kinderarbeit: Flexible Bildungsangebote, digitale Ausstattung
Noch konkretere Empfehlungen, die auch in Durban eine Rolle spielen sollen, haben Kinder in Peru und Indien gemeinsam mit Lehrer:innen in Workshops erarbeitet, deren Ergebnisse der TDH-Kinderarbeits-Report dokumentiert. Sie fordern etwa flexiblere Bildungsangebote und eine ausreichende digitale Ausstattung, damit die Kinder frühmorgens, nachmittags oder abends nach der Arbeit zu Hause lernen können. Während der Schulschließungen scheiterte das meist daran, dass Familien mit mehreren Kindern sich ein Mobiltelefon teilen mussten und der Internetzugang oft gar nicht zu finanzieren war.
Bildung müsse für alle Regierungen absolute Priorität haben, heißt es im TDH-Report. Und dazu faire Löhne für die Eltern, die ausreichen, um die Basisversorgung der Familien einschließlich der Schulbildung für die Kinder finanzieren zu können. Wie vernehmbar Mädchen und Jungen ihre Interessen in Durban einbringen können, bleibt abzuwarten. Noch warten einige auf ihre Visa für die Reise nach Südafrika. (Tobias Schwab)