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Ausbeutung in der Logistik: „Es ist eine Form von Menschenhandel“

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Von: Gregor Haschnik

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Edwin Atema kommuniziert permanent, vor allem mit ausgebeuteten Fahrern, aber auch mit Politik und Medien.
Edwin Atema kommuniziert permanent, vor allem mit ausgebeuteten Fahrern, aber auch mit Politik und Medien. © Michael Schick

Edwin Atema, Verhandlungsführer beim Lkw-Streik in Gräfenhausen, spricht über die Schlüssel zum Erfolg der Fahrer, eine kranke Lieferkette, mangelnde Sensibilität deutscher Behörden und darüber, was ihm Hoffnung macht. Ein Interview von Gregor Haschnik.

Der niederländische Gewerkschafter Edwin Atema ist derzeit besonders gefragt. Der Streik der rund 60 georgischen und usbekischen Lkw-Fahrer in Gräfenhausen, die Ende April nach sechs Wochen ausstehende Löhne von insgesamt 300 000 Euro erkämpften, hat international Aufmerksamkeit erregt, auch in der Politik. Dies will der Verhandlungsführer nutzen, um Ausbeutung besser entgegenzuwirken. Kürzlich war er bei einer Anhörung im Bundestag, demnächst soll sich der Hessische Landtag wieder mit dem Fall befassen. Atema spricht in einem ruhigen Plauderton, wird bei Missständen aber sehr deutlich.

Herr Atema, was ging Ihnen durch den Kopf, als Sie sich zu Beginn des Streiks auf den Weg nach Gräfenhausen machten?

Ich habe gespürt, dass dieser Fall ein besonderer und sehr wichtiger ist. Fahrer haben unter solchen und ähnlichen miserablen Bedingungen – zumindest in der Theorie und meistens auch in der Praxis – eine sehr schwache Position. Sie sind abhängig von ihrem Arbeitgeber, etwa was Geld, Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis sowie ihr Dach über dem Kopf angeht. Wer sich auflehnt, kann schnell alles verlieren. Es ist eine Form von Menschenhandel. Wenn Fahrer streiken, muss ihre Situation extrem schlimm und ihre Entschlossenheit enorm sein. Hier hatten sich schon in den ersten Tagen rund 50 Trucker zusammengeschlossen; allein die Menge spricht für sich. Am Anfang haben wir ein kleines Team nach Gräfenhausen geschickt und mit ungefähr 25 Fahrern Gespräche geführt.

Was haben Sie dabei erfahren?

Was sie uns erzählten, passte zu der Masche, die wir von dem Speditionsunternehmen kannten. Dazu gehört, dass die Fahrer in ihren Wagen leben, scheinselbstständig sind, einen viel zu geringen Lohn bekommen und ihnen davon aus irgendwelchen Gründen immer wieder Geld abgezogen wird. Sie werden wie Tiere behandelt. Später habe ich ganz bewusst gesagt, dass sie wie Löwen gekämpft und gewonnen haben. Bezeichnend war auch, dass Beschäftigte, die bereits in Südtirol die Arbeit niedergelegt hatten, sich der Gruppe in Gräfenhausen angeschlossen haben. Sie hatten den Streik vorläufig beendet, weil ihnen die Firma Versprechungen machte – aber offensichtlich nicht hielt. Die Dimension des Falls war außergewöhnlich, nicht aber die Strukturen dahinter.

Inwiefern?

Diese Missstände gehören leider zu unserer täglichen Arbeit. Und die Auftraggeber wissen davon, ähnlich wie die Generalunternehmen in der Bauindustrie. Die Auftraggeber wissen, dass jemand den Preis für ihre hohen Gewinne zahlt. Die Lieferkette ist ein krankes System, in dem auch ein Fachkräftemangel beklagt wird. Gemeint ist aber ein Mangel an billigen Arbeitskräften.

Wer hat Sie gebeten, in Gräfenhausen die Verhandlungen zu führen?

Die Fahrer haben uns kontaktiert, weil sich bis zu ihnen herumgesprochen hatte, dass wir schon mal Kollegen aus Asien geholfen hatten, die ebenfalls in Not waren.

Wie lief die Kommunikation mit der polnischen Spedition der Familie Mazur ab?

Ich habe mich zunächst als Mediator angeboten und mir beide Seiten angehört. Die Verantwortlichen haben alle Vorwürfe bestritten, gesagt, alles sei korrekt. Wir haben sie daraufhin aufgefordert, uns als Belege Abrechnungen für fünf Fahrer zu schicken – die wir aber nicht bekamen. Ein Vorwand war, wir könnten die Unterlagen ja an Medien weitergeben. Nachdem die Frist abgelaufen war, bin ich vom Mediator zum Verhandlungsführer geworden.

Für Empörung sorgte der Auftritt der paramilitärisch wirkenden Detektei „Rutkowski Patrol“, mit der Mazur die Lkw unter seine Kontrolle bringen wollte.

Es war dumm von ihm, diesen großen Schlägertrupp zu schicken, auch weil die Aufmerksamkeit und Unterstützung für uns danach noch größer wurde. Dass der Spediteur auf so eine Idee gekommen ist, macht deutlich, wie sicher, wie unantastbar er sich in diesem System gefühlt hat. Die Polizei hat gut reagiert und Schlimmeres verhindert. Gräfenhausen war ein Tatort, wir haben die Sicherheitsbehörden frühzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass es zu solchen Aktionen kommen wird. Einschüchterung und auch Gewalt sind grundsätzlich alles andere als selten in diesem Geschäft. Wir werden immer wieder von Betroffenen angerufen, die bedroht, körperlich attackiert oder sogar nachts aus ihrem Lkw geschmissen werden, kein Geld und kein Obdach haben. Die Trucker haben Angst, besonders wenn sie alleine sind. In den letzten Tagen des Streiks hat sich ein streikender Fahrer der Firma auf der gegenüberliegenden Raststätte in Gräfenhausen aufgestellt. Er hat sich in der Nacht bedroht gefühlt, seinen Ausweis geschnappt und ist zu uns gekommen. Der Mann hat gezittert.

Zur Person

Edwin Atema ist von seinem 18. Le- bensjahr an etwa zehn Jahre lang selbst Lkw gefahren. Der Niederländer begann, sich gewerkschaftlich zu engagieren, als er sich in seiner Firma für höhere Löhne einsetzte. Später studierte der Groninger Jura, begriff aber dann, dass der Kampf für gute Arbeitsbedingungen seine Berufung ist.

Heute ist der 44-Jährige als Kopf der niederländischen Gewerkschaft FNV europaweit gegen Ausbeutung in der Logistik aktiv und oft erfolgreich: So hat er etwa 2019 Nachzahlungen für philippinische Fahrer erstritten. Ein dänisches Unternehmen hatte sie über eine polnische Briefkastenfirma angeworben und unter miserablen Bedingungen auch in Deutschland beschäftigt. gha

Mazur hat alle Vorwürfe zurückgewiesen, betont, rechtmäßig zu handeln, und sagt, er sei das Opfer, müsse hohe Vertragsstrafen zahlen, werde erpresst. Auch Sie persönlich wurden attackiert. Sie hätten gedroht, das Unternehmen zu zerstören. Was entgegnen Sie darauf?

Es wurde sogar kolportiert, Fahrer, die den Streik verlassen wollten, seien mit dem Tod bedroht worden. Später, als in der Nähe von Fulda ein Lkw aus der Firmenflotte brannte, hat das Unternehmen behauptet, während des Arbeitskampfes erpresst worden zu sein, und das Feuer damit in Zusammenhang gebracht. Beides sind absurde Versuche, die Fahrer und uns zu kriminalisieren. Beim brennenden Lkw zum Beispiel haben die Fahrer, die dort ihre persönlichen Sachen hatten, selbst gelöscht. Die Polizei hat das bestätigt.

Der Streik hat international Wellen geschlagen, es gab Solidaritätsbekundungen aus aller Welt. Wie haben Sie das erlebt?

Es war ein entscheidender Faktor, für die Fahrer besonders in mentaler Hinsicht. Sechs Wochen Streik durchzuhalten, ist sehr schwer. Man weiß nie, was als Nächstes passiert. Die Männer waren weiterhin entschlossen, aber erschöpft. Das Adrenalin hat sie wach gehalten. Die Unterstützung durch den DGB, Verdi und andere hat den Lkw-Fahrern gutgetan, genauso wie die kleinen Gesten. Manchmal hielten andere Trucker an und gaben ihnen Zigaretten oder etwas zu essen. Beeindruckt hat mich auch die Solidarität unter den Streikenden. Sie kommen aus unterschiedlichen Ländern, sprechen unterschiedliche Sprachen und haben zusammengehalten, miteinander diskutiert und gemeinsam entschieden.

Mazur hat die geforderte Summe gezahlt und in einer Vereinbarung auf Klagen gegen die Fahrer verzichtet. Was hat letzten Endes den Ausschlag gegeben?

Die öffentliche Aufmerksamkeit hat geholfen, doch ohne den Druck aus der Lieferkette – die Vertragsstrafe von etwa 100 000 Euro pro Tag, weil ein Schweizer Kunde auf seine Ware warten musste – hätte es wohl nicht geklappt. Daran zeigt sich, dass die Menschen in diesem Spiel egal sind. Mazur hätte den Fahrern ansonsten gleich das ihnen zustehende Geld geben können. Bis der Verzicht auf juristische Schritte – der den Fahrern besonders wichtig war – durchgesetzt war, mussten wir 24 Stunden verhandeln.

Was muss sich ändern, auch und vor allem in Deutschland, um die Ausbeutung zu verhindern?

In erster Linie müssen die vorhandenen Gesetze richtig kontrolliert und umgesetzt werden. Wie das seit Januar 2023 geltende Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, bei dem größere Firmen dafür sorgen müssen, dass zum Beispiel Menschenrechte eingehalten werden. Menschenhandel gibt es nicht nur in der Sexindustrie, sondern auch in der Logistik. Bei deutschen Sicherheitsbehörden fehlt es hier noch an Kenntnissen und Sensibilität für das Thema. In Belgien ist das anders, dort wird die Staatsanwaltschaft bei entsprechenden Anzeichen sofort aktiv – so wie bei einem usbekischen Kollegen der Streikenden vor einigen Wochen. Eine andere Regelung in Deutschland sollte geändert werden.

Welche?

Es geht um die Lenk- und Ruhezeiten. Dafür, dass sie eingehalten werden, muss in den Niederlanden und Belgien die Spedition sorgen. Bei Verstößen ist sie es, die Bußgeld zahlen muss. In Deutschland werden die Fahrer, also die Opfer, sanktioniert und bekommen dann Schwierigkeiten mit ihrer Firma. Wie kann das sein? Solche Regelungen tragen dazu bei, dass Betroffene sich bei Missständen nicht an die Polizei oder den Zoll wenden.

Wie groß ist Ihre Zuversicht?

Es kann nicht so weitergehen, dass fast alle in der Kette ganz viel Geld verdienen, zum Teil riesige Summen, während die Fahrer wie Sklaven behandelt werden – jedenfalls die Fahrer etwa aus Osteuropa und Asien, die unter prekären Bedingungen beschäftigt sind. Es ist eine Zweiklassengesellschaft. Es darf nicht sein, dass die Streikenden nach ihrem Erfolg früher oder später wieder ausgebeutet werden. Ich bin optimistisch, dass es besser wird.

Weshalb?

Unternehmen, die ausbeuterische Betriebe in ihrer Lieferkette haben, werden zunehmend Probleme bekommen, mit dem Gesetz und ihrem Image. Wir skandalisieren nicht nur, sondern bieten Lösungen. Wir arbeiten bereits mit einigen großen, internationalen Firmen zusammen und zeigen ihnen, wie sie faire Bedingungen sicherstellen können. Das Interesse an einer Zusammenarbeit wächst.

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