Einkaufen im autonomen Supermarkt

Einzelhändler experimentieren zunehmend mit Supermärkten ohne Personal. Ist das ein sinnvoller Beitrag zur Nahversorgung oder eine Gefahr für Arbeitsplätze? Von Louis Leible-Hammerer.
Rasdorf ist ein Anderthalbtausend-Seelen-Dorf in der osthessischen Kuppenrhön. DDR-Gedenkstätte, gotische Stiftskirche, Bäckerei, Metzgerei. Bis Ende 2020 sei auch ein Tante-Emma-Laden Teil des Ortsbilds gewesen, erzählt Bürgermeister Jürgen Hahn. Nach der Schließung allerdings war der nächstgelegene Supermarkt etwa zehn Autominuten weiter im thüringischen Geisa zu finden. Doch Abhilfe ließ nicht lange auf sich warten: Im März 2021 wurde der sogenannte Teo eröffnet – ein 50 Quadratmeter kleiner, 24 Stunden am Tag geöffneter Laden ohne Personal mit den wichtigsten Produkten für den Alltag. Betrieben wird er vom Fuldaer Lebensmitteleinzelhändler Tegut.
Zwar fahren laut Jürgen Hahn viele für ihren Großeinkauf nach wie vor in angrenzende Orte, „einige Familien kaufen aber so viele Produkte wie möglich“ in dem automatisierten Nahversorger. Und selbst die ältere Generation habe keine Berührungsängste damit, sich wahlweise über ihre Girocard, Kreditkarte oder über die Teo-App Zugang zum Laden zu verschaffen. Der Markt sei ein echter Zugewinn für den Ort, betont Hahn. Zuvor habe die Kommune auf der Suche nach einem Supermarktanbieter sogar ein Gebäude mietfrei angeboten – ohne Erfolg.
Personallose Supermärkte also als Lösung für die Nahversorgung in ländlichen Gebieten? Immer mehr Handelsketten testen Konzepte, in denen die Kundschaft sich selbst überlassen bleibt: keine Kassiererinnen und Kassierer weit und breit. An jedem Wochentag rund um die Uhr sind die Märkte zugänglich, klassische Ladenöffnungszeiten sind damit passé. Zahlreiche Namen existieren für den Ansatz: autonome oder automatisierte Märkte, unbemannte Stores („unmanned stores“), Walk-in-Stores, Smart Stores 24/7. Wo liegen die Möglichkeiten und Grenzen dieser Idee?
Supermärkte ohne Personal in dünn besiedelten Gebieten
Der Handels- und Innovationsexperte Marc Knoppe setzt ein Fragezeichen hinter die Zukunftsfähigkeit auf dem Land. Bessere Aussichten für das Geschäftsmodell sieht der an der Technischen Hochschule Ingolstadt tätige Professor für Internationales Handelsmanagement in Stadtzentren sowie an stark besuchten Plätzen wie Universitäten, Bahnhöfen und Flughäfen – „hier liegt ein größeres Kundenpotenzial“. Çetin Acar, Projektleiter IT am EHI Retail Institute, stimmt dem zu. Auch wenn der ländliche Raum und dessen Versorgung wichtig seien, liegen für ihn die Perspektiven der autonomen Läden eher „in hoch frequentierten Orten in Innenstädten“ als in dünn besiedelten Gegenden.

Tatsächlich sind die Standorte der automatisierten Stores in Deutschland sehr divers gewählt: Stadtmitte, Dorf, Bahnhof, Hochschulcampus. Nur eine kleine Auswahl: Ende 2020 ging Tegut mit seinen Teo-Läden in der Region Fulda an den Start, 2021 folgte die Schwarz-Gruppe (Lidl, Kaufland) mit einem Modell-Laden in Heilbronn. Zuletzt stieg auch die Rewe Group im fränkischen Pettstadt in das Walk-in-Segment ein. Daneben gibt es auch rund um die Uhr zugängliche Varianten, bei denen ein Automat die georderte Ware kommissioniert, etwa von Edeka, Bünting oder ebenfalls der Schwarz-Gruppe, und hybride Konzepte, bei denen man außerhalb der Kernzeiten, zu denen Personal anwesend ist, Zutritt über eine Mitgliedskarte erhält. Auf ungefähr 40 verschiedene Anbieter allein in der Bundesrepublik kommt die Duale Hochschule (DHBW) Heilbronn in einer Übersicht.
Autonome Supermärkte: Der Pionier kommt aus Schweden
Auch technisch gibt es große Unterschiede. Während etwa der Prototyp der Schwarz-Gruppe über Sensoren nachverfolgen kann, welche Waren die Kund:innen aus den Regalen nehmen und automatisch beim Verlassen des Ladens über den Bezahlungsdienstleister Klarna abrechnet („Grab and Go“), wird bei Nahkauf klassisch gescannt und mit Karte bezahlt („Scan and Go“).
Der Pionier der unbemannten Märkte stammt übrigens aus Skandinavien: 2016 eröffnete ein schwedischer IT-Spezialist einen „Näraffär“ im Süden des Landes. Der wurde aufgrund seiner Beliebtheit im darauffolgenden Jahr vom Kaffee-Start-up Wheelys aufgekauft – dieses ging 2020 aber pleite. Auch der US-amerikanische Internetgigant Amazon betreibt mit seiner Marke Amazon Go autonome Supermärkte.
Einkaufen ohne Kassierer: Offene Fragen beim Datenschutz
Die Nutzung der erfassten Daten wirft jedoch Fragen auf, insbesondere bei der „Grab and Go“-Spielart mit ihrer Kombination aus Sensorik und Kameras. Peter Schaar, ehemaliger deutscher Datenschutzbeauftragter, sprach „Zeit Online“ gegenüber etwa davon, dass bei Amazon Go sehr intransparent sei, was mit den gesammelten Informationen passiere. Er gehe davon aus, dass das Prinzip auf umfassender Kontrolle beruhe und ein sehr genaues Profil der Kund:innen angelegt werde. Die Schwarz-Gruppe hingegen beteuert in ihrem Imagefilm, die Datenschutzanforderungen seien hierzulande sehr hoch und man werde diesen „mehr als gerecht“.
Wollen die Anbieter durch die Automatisierung Mitarbeitende einsparen? Sören Gatzweiler, Projektleiter für die Teo-Stores, widerspricht: Die neuartigen Märkte seien nicht als Ersatz für das traditionelle Supermarktmodell gedacht, sondern vielmehr eine Ergänzung, wo aus Gründen des Platzes oder der Infrastruktur keine konventionellen Läden möglich seien – „das schafft zusätzliche Arbeitsplätze“. Denn komplett ohne Personal kommt man nicht aus, irgendwer muss schließlich Nachschub bestellen, die Regale auffüllen und für Sauberkeit sorgen. Auch die Autor:innen eines Whitepapers der DHBW Heilbronn rechnen nicht mit einer Verdrängung herkömmlicher Märkte: „Smart Stores 24/7 werden nur eine Nischenposition einnehmen. Der klassische Lebensmitteleinzelhandel wird nicht signifikant substituiert werden.“
Großes Interesse an Supermärkten ohne Personal
Es herrsche ein großes Interesse seitens der Anbieter, Probeläufe mit Smart Stores voranzutreiben, sagt Çetin Acar vom EHI. „Die Akzeptanz bei der Kundschaft ist da, die Idee ist nun reif genug, wir sehen eine dynamische Entwicklung. Corona hatte einen deutlichen Anteil daran. Vor der Pandemie hatten sich die Deutschen mit Kassen zur Selbstabrechnung schwergetan, aber vermutlich haben da Covid-Tests per QR-Code gedankliche Hürden abgebaut.“
Sören Gatzweiler von Tegut spricht von einer starken Nachfrage: „Wir haben über 300 aktuelle Anfragen von potenziellen Standortgebern. Unser Ziel ist es, in diesem Jahr 20 weitere Teo-Märkte zu eröffnen, hauptsächlich im Rhein-Main-Gebiet, aber auch einzelne Märkte in Bayern und/oder Baden-Württemberg.“
Supermärkten ohne Personal machen bislang keinen Gewinn
Professor Marc Knoppe von der TH Ingolstadt findet diesen Trend folgerichtig. „Supermärkte wollen weg von klassischen Kassensystemen, denn die sind fehleranfällig und verursachen Personalaufwand.“ Eine Gewinnschwelle sei bei autonomen Märkten allerdings noch nicht erreicht. „Die Entwicklung ist bislang eher in einem Innovationsstadium. Am ehesten sehe ich einen Nutzen außerhalb der üblichen Öffnungszeiten.“
Auch Çetin Acar vermutet, dass es langfristig auf eine Mischung aus traditionellen Märkten, Selbstbezahlungsterminals und situativ personallose Standorte hinausläuft. Zu bedenken gibt Marc Knoppe allerdings, dass ein Großteil der Kund:innen nach wie vor Läden mit Mitarbeitenden bevorzugt. Je nach Tagessituation sähen Menschen das Einkaufen auch als sozialen Begegnungsraum. Das zeigten Studien – und besonders auch die Erfahrungen der Corona-Pandemie.