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Droht ein chinesischer Lehman-Moment?

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Von: Finn Mayer-Kuckuk

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Sorgen um das Ersparte: Menschen warten, umringt von Polizei, vor dem Evergrande-Hauptquartier in Shenzhen. afp
Sorgen um das Ersparte: Menschen warten, umringt von Polizei, vor dem Evergrande-Hauptquartier in Shenzhen. afp © AFP

Der Immobilienkonzern Evergrande steuert auf eine Mega-Insolvenz zu – doch ChinasRegierung steht bereit, die Folgen abzufedern

Die Stunde der Wahrheit naht für Chinas angeschlagenen Immobilien-Riesen Evergrande: Am Donnerstag muss das Unternehmen zwei große Anleihen zurückzahlen. Das gilt als Test für den wahren Zustand des Konglomerats. Es ächzt unter rund 250 Milliarden Euro an Schulden gegenüber Banken, Baufirmen, Handwerksbetrieben und Anleger:innen. Nach stotternden Rückzahlungen in den vergangenen Monaten gilt Evergrande derzeit als weltweit größtes Ausfallrisiko. Das schiere Volumen der Verbindlichkeiten platziert das Unternehmen in einer Liga mit der US-Investmentbank Lehman Brothers, deren Pleite 2008 der Beginn einer weltweiten Finanzkrise war. Die Sorge um die sich zuspitzende Krise ließ am Montag bereits den Deutschen Aktienindex abrutschen.

Doch auch wenn einige Analysten eine Parallele zu Lehman für alarmierende Überschriften verwenden, ist das Risiko einer vergleichbar weitreichenden Krise eher gering. „Auch wenn das Unternehmen kollabiert, werden die Regulatoren aggressiv einschreiten, um eine Ausbreitung der Insolvenz auf Wohnungskäufer, Investoren und Zulieferer zu verhindern“, kommentiert der Finanzwissenschaftler Michael Pettis von der Peking-Universität. Evergrande ist einfach zu groß, um es pleitegehen zu lassen.

Es gibt noch weitere Unterschiede. Während die Risiken 2008 wegen der doppelt verpackten Finanzprodukte der damaligen Zeit intransparent waren, liegen das Geschäftsmodell und die Verbindlichkeiten von Evergrande einigermaßen deutlich auf dem Tisch. Das Unternehmen betreibt 1300 Immobilienprojekte in 280 chinesischen Städten. Oft handelt es sich um Komplexe mit Shops, Restaurants, Büros und Appartements. Es handelt sich zudem im Gesamtbild eher um eine innerchinesische Angelegenheit, ausländische Investoren sind nur wenig betroffen.

Evergrande: Ein Koloss auf tönernen Füßen

Für China wäre eine Insolvenz allerdings eine Katastrophe. Keine Firma hat je so viele Eigentumswohnungen geschaffen und vermarktet wie Evergrande. Wenn die Deutsche Wohnen groß ist, ist Evergrande ein Gigant. Schätzungen zufolge entsprechen die Verpflichtungen des Unternehmens drei Prozent der chinesischen Wirtschaftsleistung. Es beschäftigt rund 200 000 Menschen. „Die Frage ist nun, warum Peking nicht viel früher eingestiegen ist“, fragt Pettis. Es habe in den vergangenen Jahren reichlich Warnungen davor gegeben, dass der Koloss auf tönernen Füßen steht.

Das Unternehmen ist nach Standards etablierter Volkswirtschaften noch jung. Es wurde 1997 von Xu Jiayin gegründet, einem ehemaligen Stahlwerksmitarbeiter. Er kaufte zunächst günstige Immobilien in kleineren Städten, die im Zuge der chinesischen Entwicklung enorm im Wert stiegen. Xu hat die wertvolleren Objekte gehalten und sie als Sicherheiten für neue Kredite genutzt. Mit dem so aufgenommenen Geld ist Xu jeweils in die nächste Runde von Zukäufen eingestiegen. Mit Gewinn und Umsatz von Evergrande schien es immer nur aufwärts zu gehen. Evergrande wurde zur größten Immobilienfirma des Landes.

Bis zum vergangenen Sommer hat Xu die Bälle immer geschickt in der Luft gehalten. Das Geschäftsmodell beruhte aber auf der Annahme, dass die Preise am Immobilienmarkt immer nur nach oben gehen und dass China immer gleichmäßig wächst. Dann kam Corona. Die Schocks durch die Pandemie versetzten das Konglomerat in eine Abwärtsspirale. Investoren zogen Geld ab, was Zahlungsprobleme schuf. Das verstärkte wieder das Misstrauen. Selbst als die Corona-Folgen einigermaßen überwunden waren, konnte Xu sich nicht aus der Abwärtsbewegung befreien. Er hatte einfach zu hoch gepokert.

Evergrande: Image der chinesischen Wirtschaft in Gefahr

Nun ist es interessant zu beobachten, wie sich die chinesische Regierung verhält. Es gilt dabei als sicher, dass sie keine katastrophale Pleite zulassen wird. Stattdessen wird sie den Immobilienmarkt und das Finanzsystem von der möglichen Implosion von Evergrande isolieren, glaubt Pettis. Denn eine unkontrollierte Insolvenz würde gleich drei Politikziele in Gefahr bringen: die Zufriedenheit der chinesischen Immobilienkäufer:innen, den Bau neuer Wohnungen und nicht zuletzt das internationale Image der chinesischen Wirtschaft.

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