Doppeltes Leid

Immer mehr Menschen können wegen psychischer Probleme nicht arbeiten. Sich gegen Berufsunfähigkeit zu versichern, wird empfohlen, ist aber nach einer Therapie fast unmöglich.
Der Entschluss, sich Hilfe zu holen, markiert für viele Menschen mit psychischen Problemen das Ende eines langen Weges. Einer Phase des Haderns und des Zweifelns. Brauche ich wirklich Unterstützung? Oder schaffe ich es alleine, nehme womöglich den Therapieplatz jemand anderem weg, der ihn dringender braucht? Eva fasste ihren Entschluss im Winter 2014. Die heute 32-Jährige beginnt eine Therapie, die vier Jahre dauern wird. „Es gab einige Dinge, die ich bereits seit Jahren mit mir herumtrug“, sagt Eva, die in Wirklichkeit anders heißt.
Die Studentin aus dem Süden Niedersachsens ist Teil einer Entwicklung, die sich in der Corona-Pandemie radikal beschleunigt hat: Immer mehr Menschen haben mit psychischen Problemen zu kämpfen. Ein pausiertes Sozialleben, geschlossene Unis und Schulen befeuerten die Einsamkeit. Frauen, Kinder und Jugendliche sind besonders betroffen, wie Umfragen zeigen.
Was Eva nicht ahnte, als sie sich lange vor der Pandemie zur Therapie entschloss: Der Schritt wird ihre soziale Absicherung zum Schlechten verändern. Denn Menschen, die eine Psychotherapie hinter sich haben, kommen in der Folge nur noch schwer zu einer Berufsunfähigkeitsversicherung (BU). Sie aber ist essenziell, wenn man sichergehen will, dass man im späteren Fall von Krankheit finanziell abgesichert ist. Über den Sinn vieler Versicherungen wird gestritten – doch bei der Berufsunfähigkeitsversicherung sind sich Verbraucherschützer:innen einig: Die sollte man haben.
Umfassende Gesundheitsprüfung
Für Eva kam der Schock im vergangenen Jahr, drei Jahre nach Ende ihrer Therapie. Ein Nachbar habe sie auf das Thema BU aufmerksam gemacht. Als Frau sei das Thema Armut für sie ohnehin drängender, dachte sie. Und stellte mit einem Berater eine anonyme Risikovoranfrage. Auf den Tisch kommt dann alles: von Arztbesuchen über das Rauchverhalten bis zu riskanten Hobbys wie Paragliden. Neben der vierjährigen Therapie musste sie auch Probleme mit Nacken und Knie angeben. Das Ergebnis: Kein Anbieter wollte sie versichern.
Eine BU springt ein, wenn Erwerbstätige ihren Beruf aus gesundheitlichen Gründen zu mindestens 50 Prozent nicht mehr ausüben können. Sie schützt dann ihre Existenz. Der Haken: Wer eine BU bekommt und zu welchem Preis, entscheiden die Versicherer. Und auf psychische Probleme sind die schlecht zu sprechen.
„Wenn jemand zwei oder drei Jahre in Therapie war, ist die Ablehnung so gut wie sicher“, sagt André Salau vom Bundesverband der Versicherungsberater. Allerdings komme es immer auf den Einzelfall an.
Die Alternative für Abgelehnte lautet: warten. Denn die meisten Versicherungen fragen eine Krankenhistorie von fünf bis zehn Jahren ab, wie Salau erklärt. Nach Ablauf der Frist sei die BU zwar etwas teurer – je früher man sich versichert, desto günstiger –, aber immerhin hätten Antragsteller:innen dann eine neue Chance.
Allerdings mehren sich mit der Zeit die „Wehwehchen“, wie Salau erklärt. Rückenschmerzen, Knieprobleme. Kein Arztbesuch darf in dem Antrag verschwiegen werden. Abgesehen von einer Ablehnung kann eine BU dann teurer werden, weil Versicherer eine Risikoprämie aufschlagen, oder die Police enthält Ausschlüsse. Dann kann man eine BU abschließen, die zum Beispiel Rückenprobleme nicht mitversichert. Obwohl gerade das der Versicherungsschutz ist, den Menschen mit Rückenleiden bräuchten.
Besonders junge Menschen sind betroffen
Berufsunfähigkeit ist auf dem deutschen Arbeitsmarkt ein wachsendes Problem. Jede:r dritte Berufstätige war bereits einmal sechs Wochen berufsunfähig, knapp die Hälfte davon auch länger oder dauerhaft. Das geht aus einer repräsentativen Umfrage im Auftrag des Versicherers Hannoversche hervor. Besonders stark betroffen sind junge Menschen: Fast jede:r zweite Befragte unter 30 war bereits einmal länger als sechs Wochen arbeitsunfähig. Trotz dieser Häufung ist laut der Befragung nicht einmal jede:r Sechste gegen Berufsunfähigkeit versichert. Die mit Abstand häufigste Ursache für Berufsunfähigkeit: psychische Erkrankungen. Tendenz steigend.
Gerade junge Menschen mit psychischen Leiden sehen sich mit einem gefährlichen Anreiz konfrontiert, wie das Aktionsbündnis Seelische Gesundheit warnt. Sie könnten auf psychotherapeutische Hilfe verzichten, um sich die Chancen auf eine BU nicht zu verbauen.
„Viele Strukturen in unserer Gesellschaft halten Menschen mit psychischen Erkrankungen eher davon ab, sich die Hilfe zu holen, die sie benötigen“, sagt Arno Deister, Vorsitzender des Bündnisses und Professor für Psychiatrie. Dass Menschen nach einer Psychotherapie der Schutz einer Berufsunfähigkeitsversicherung verwehrt wird, sei ein Paradebeispiel dafür. Denn wer wisse, dass nach einer Therapie Konsequenzen drohen, für den entstehe ein Anreiz, sich gar nicht erst behandeln zu lassen. „Dabei ist es entscheidend, sich bei psychischen Problemen umgehend Hilfe zu holen“, sagt Deister.
Das Resultat, so Deister, könne auch für die Versicherer nicht zufriedenstellend sein. Denn wenn Menschen auf eine Behandlung verzichteten, um eine BU abzuschließen, steige die Wahrscheinlichkeit, dass sie später tatsächlich berufsunfähig werden. Und das werde dann auch für die Versicherungen teuer.
Gefährliche Berufe kaum versicherbar
Die Versicherungsbranche verteidigt derweil die Gesundheitsprüfung. Anbieter müssten abschätzen können, wie viele Leistungsfälle in etwa zu erwarten seien, sagt ein Sprecher des Gesamtverbands der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) auf Anfrage. Die Abfrage der Krankheitsgeschichte sei deshalb wichtig, um eine funktionierende Versicherung auf die Beine zu stellen.
„Bei psychischen Vorerkrankungen ist vor allem die langfristige Prognose des Risikos schwierig“, heißt es vom GDV. Aktuell gebe es nahezu keine Informationen und Methoden, mit denen sich erkennen lasse, ob ein Mensch nach einer psychischen Erkrankung für 30 oder mehr Jahre geheilt sei. „Für eine belastbare Risikobewertung sind solche Informationen jedoch nötig.“
Dieser Darstellung widerspricht Arno Deister. „Bei vielen psychischen Erkrankungen hat sich in den letzten Jahren ganz viel bewegt.“ Die Heilungschancen für besonders häufig auftretende Leiden wie Depressionen und Angsterkrankungen seien deutlich gestiegen. Ausschließen könne man eine neue Krankheitsphase natürlich nie – ebenso wenig wie man einen Hausbrand ausschließen könne. „Versicherungen sind ja dafür da, Risiken abzusichern, und dürfen nicht verlangen, dass gar kein Risiko besteht.“
Das Prüfen auf Leib und Seele ist indes nicht nur für Menschen mit psychischen Vorerkrankungen ein Problem. Nicht unbedingt mit Ablehnungen, aber dafür mit horrenden Prämien müssen all jene rechnen, mit deren Beruf erfahrungsgemäß ein erhöhtes Gesundheitsrisiko einhergeht. Von der Physiotherapeutin bis zum Fliesenleger. „Ein 30-jähriger Versicherungsmathematiker ohne Vorerkrankungen zahlt nur 70 bis 100 Euro monatlich für eine BU, die im Leistungsfall 2000 Euro im Monat bis zum 67. Lebensjahr zahlt“, sagt Constantin Papaspyratos, Chefökonom des Bundes der Versicherten (BdV). „Eine Gerüstbauerin zahlt für den gleichen Versicherungsschutz das Sechsfache.“ In der Konsequenz könnten sich gerade die keine BU leisten, die sie besonders brauchen, so Papaspyratos.
Wenig Alternativen
Gibt es Alternativen für jene, die keine Berufsunfähigkeitsversicherung bekommen? Versicherungsvermittler:innen werben zwar mit einem Strauß anderer Produkte, wie der unabhängige Berater André Salau sagt. Ein Beispiel ist die Dread-Disease-Versicherung. Doch von echten Alternativen könne nicht die Rede sein. „Jedes Versicherungsprodukt hat seine Berechtigung, aber das Leistungsprofil einer BU erfüllt nur sie selbst“, sagt Salau. Wo anderes behauptet werde, ginge es schlicht darum, mit unpassenden Versicherungen Kasse zu machen. „Manche Versicherungsvermittler machen dann einen Bauchladen daraus.“
Der von Versicherern gesetzte Fehlanreiz, sich nicht oder nicht rechtzeitig behandeln zu lassen, sei geradezu absurd, kritisiert Kirsten Kappert-Gonther, Bundestagsabgeordnete und Sprecherin für Gesundheitsförderung der Grünen. Er führe zu einer weiteren Stigmatisierung psychischer Erkrankungen, weshalb geprüft werden müsse, ob diese Form der Risikokalkulation zulässig sei – oder ob das Versicherungsvertragsrecht in dieser Hinsicht nicht angepasst werden müsse. „Wer krank ist, braucht adäquate Hilfen, ob für den Körper oder die Seele.“
Evas Therapie ist nun schon über vier Jahre her. Das heißt, bei manchen Versicherern rutscht die Behandlung demnächst aus der abgefragten Krankenhistorie. Vor einigen Wochen dann ein weiterer Gang zum Arzt. Fehlender Antrieb, fehlende Energie. „Winterblues“, sagt sie. „Jedes Jahr pünktlich im November.“ Der Arzt will ihr ein Mittel mit Johanniskraut verschreiben, müsste ihr dafür aber eine mittelschwere Depression diagnostizieren. Gut für sie wäre das. Aber schlecht für ihre Krankenakte.