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Der digitale Klassenkampf der Unsichtbaren

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Von: Jonas Rest

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Sie sind schnell und für ihre Auftraggeber so gut wie unsichtbar: sogenannte Turker.
Sie sind schnell und für ihre Auftraggeber so gut wie unsichtbar: sogenannte Turker. © imago

Amazon vermarktet weitestgehend rechtlose Web-Arbeiter als Computerprogramm. Doch die Unsichtbaren beginnen, sich zu wehren: „Wir sind Menschen, keine Algorithmen“

Kristy Milland aus Toronto hat vor einigen Monaten eine E-Mail an Amazon-Chef Jeff Bezos geschickt. „Ich bin ein Mensch, kein Algorithmus,“ hat sie dem Milliardär geschrieben. „Wir sind atmende Lebewesen, die ihre Familien ernähren.“ Es ist eine Feststellung, die für Bezos wie eine radikale Forderung klingen muss.

Milland, 36 Jahre alt, wird von Amazon nämlich als Computerprogramm vermarktet. Als „künstliche künstliche Intelligenz“. So nennt Amazon die Dienstleistung, die mehr als 500 000 Arbeiter wie Milland auf der Plattform Amazon Mechanical Turk erbringen. Turker nennen sie sich selbst. Sie erledigen dort Mikro-Aufträge, für die es zu aufwendig wäre, ein Programm zu programmieren.

Die Kanadierin war eine der ersten, die auf Amazons Plattform arbeitete. Sie begann im November 2005, zunächst in Teilzeit. Als ihr Mann 2010 seinen Job verlor, begann sie Vollzeit zu arbeiten, bis zu 17 Stunden am Tag. Inzwischen hat Milland 834 186 Aufträge auf der Plattform erledigt. Für einen hat sie im Durchschnitt 19 Cent bekommen.

Milland hat viel darüber nachgedacht, wieso Amazon es vorzieht, sie als Programm anzubieten. „Es hat mit Psychologie zu tun,“ sagt sie. „Wenn die Auftraggeber das Gefühl haben, es mit einem Computerprogramm zu tun zu haben, müssen sie sich keine Gedanken darüber machen, ob ein Mensch davon leben kann, wenn er für zwei Cent eine Aufgabe erfüllt. Es macht die Ausbeutung leichter.“

Milland hat beschlossen, darum zu kämpfen, dass sich das ändert. Irgendwann im letzten Jahr habe sie ihre Angst verloren, sagt sie. Die Angst, das Amazon die ganze Plattform dicht machen könnte, wenn sich die Turker für bessere Bedingungen einsetzen. Sie hat begonnen, die Turker zu organisieren.

Die digitale Arbeiterbewegung, nennt es Milland. Es ist eine, sagt sie, die neue Mittel finden muss, um ihre Forderungen durchzusetzen. „Ein Streik ist schwierig, wenn man niemals sehen kann, ob die anderen Turker auch streiken – und die Personen aus über hundert verschiedenen Ländern kommen“, sagt Milland. Arbeitsverträge bestehen auf der Plattform nur für Minuten, solange es dauert, die Aufträge zu bearbeiten. Und Amazon behält sich in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen vor, das Konto eines Turkers jederzeit ohne Begründung zu kündigen. Kurzum: Amazons Mechanical Turk ist so gestaltet, als hätte der Konzern eine Blaupause zur Verhinderung der Durchsetzung von Arbeitsrechten umgesetzt.

Die Turker haben dennoch Wege gefunden, sich abzusprechen. Sie treffen sich in Online-Foren. Das wichtigste führt Milland: Turker Nation nennt es sich. Turker, die nicht auf Turker Nation stoßen, bleiben meist nicht lange dabei. Sie erfahren nichts von Turkopticon, einem digitalen Werkzeug, mit dem sich die Webarbeiter etwas Macht erkämpft haben.

Keine Reaktion

Turkopticon ist eine Erweiterung für den Browser, mit der Auftraggeber bewertet und so dubiose Angebote gemieden werden können. So überziehen die Turker Amazons Plattform mit ihrem eigenen Netz. „Proletarier von Mechanical Turk, vereinigt Euch!“, wird in der Beschreibung des Programms gefordert.

Six Silberman, 29 Jahre alt, Doktorand der Informatik an der University of California, hat das digitale Werkzeug vor sechs Jahren programmiert. Inzwischen hat allein die Erweiterung für den Chrome-Browser knapp 30 000 Nutzer. „So war das eigentlich nie geplant“, sagt Silberman, der ab Juli bei der IG Metall die Crowdworker unterstützen soll. Das Programm sollte Amazon nur auf die Probleme der Turker hinweisen, sagt Silberman. Er dachte, Amazon würde selbst ein Bewertungssystem integrieren, wenn der Bedarf offensichtlich würde. Doch nachdem Silberman das Plug-in veröffentlichte und es immer mehr Turker nutzen, reagierte Amazon einfach gar nicht. Seitdem hält Silberman Turkopticon mit einigen Freiwilligen notdürftig am Laufen. Er weiß, dass die Turker darauf angewiesen sind.

Es ist ein kleines Werkzeug des digitalen Klassenkampfes. Wenn ein Auftraggeber sich nicht korrekt verhält, haben die Turker nun ein Mittel, um Druck zu machen. „Wenn Auftraggeber schlechte Bewertungen bei Turkopticon bekommen, merken sie das“, sagt Milland. Die Profi-Turker, die nach Millands Erfahrungen rund 80 Prozent der Arbeit erledigen, meiden den Auftraggeber dann. Die zehn- oder sogar hunderttausende Mini-Aufgaben werden dann nur langsam abgearbeitet – insbesondere solche, für die nur besonders qualifizierte Turker zugelassen sind. „Ein Streik im Kleinformat“, sagt Milland. „Die Auftraggeber korrigieren dann meist ihr Verhalten.“

Bis vor einem Jahr blieben diese Auseinandersetzungen weitestgehend unter der Oberfläche der Plattform verborgen. Doch im Dezember begannen die Turker erstmals, Amazon auch in der Öffentlichkeit unter Druck zu setzen.

Bezos das Leben erklärt

Millands Brief an Bezos war Teil der ersten öffentlichen Kampagnen der Turker. Dutzende Turker schickten dem Amazon-Boss Mails, in denen sie aus ihrem Leben erzählten. Es sollte zeigen, dass sie Menschen sind. Eine Turkerin berichtete etwa, wie sie ihren Job aufgeben musste, um ihre behinderte Tochter zu pflegen, und gleichzeitig über Mechanical Turk versuchte, den Verdienstausfall zu kompensieren. Ein anderer erzählt, dass er sich etwas dazu verdient, um im Winter das Heizöl bezahlen zu können.

Das Ziel der Kampagne: Amazon dazu zu bringen, mit der Qualität der Turker zu werben, anstatt sie zu verstecken, um die Plattform als spottbillige Auftragserledigungsmaschine zu positionieren. „Wir haben begonnen, unser Gesicht zu zeigen“, sagt Milland.

Amazon-Chef Bezos hat auf keine der Mails geantwortet. Doch Milland sagt: „Ich bin sicher, dass er angefressen ist.“ Den Turkern gelang es nämlich, durch die vorweihnachtlichen Briefe ihre Forderungen in die US-Medien zu bringen. Man sehe an den Veränderungen für die indischen Turker, das die Kampagne einen Effekt gehabt habe, sagt Milland. Viele hatten sich beschwert, dass Amazon sie nur per Schecks auszahlte, die häufig in der Post verloren gingen. Inzwischen ermöglicht Amazon auch Überweisungen.

Für die Kampagne haben die Turker mit Forschern aus Stanford eine Plattform entwickelt, die es den Turkern ermöglicht, einen 140-Zeichen-Vorschlag für eine Aktion zu machen, der dann von anderen Turkern Punkte bekommen kann und so nach oben durchgereicht wird. Es ist der Versuch, die virale Dynamik von sozialen Netzwerken zu nutzen, um kollektiv zu handeln. „Wenn Turker eins können, ist es, das Internet zu nutzen“, sagt Milland. „Wir sind das Internet.“

Besonders eine der ältesten Aktionsformen der Arbeiterbewegung lässt Milland nicht mehr los: Streikposten. Mit ihnen will sie die Amazon-Zentrale lahmlegen. Die Turker müssten dabei auch nicht die Sperrung ihrer Konten fürchten. Milland sagt: „Die Ironie wäre, dass Amazon keine Ahnung hätte, wer wir sind.“ Der Konzern interessiert sich ja nicht für die Identität der Turker.

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