Und ob. Wer ständig unter Stress steht, nicht einmal Zeit für ein wenig Zuwendung hat, in der Nacht mit Dutzenden Patienten oder Pflegeheimbewohnern allein ist, immer wieder an freien Tagen in den Dienst gerufen wird und dann auch noch wenig Geld verdient, der kann diese Missstände nicht verschweigen. Wenn Pflegekräfte im Schnitt nur acht Jahre im Job bleiben und überdurchschnittlich oft in Teilzeit arbeiten, damit sie den Knochenjob überhaupt aushalten können, dann sind das eindeutige Alarmsignale. Die Arbeitsbedingungen müssen sich grundlegend verbessern, sonst werden immer mehr Beschäftigte ihrem Job den Rücken kehren.
Wo muss man Ihrer Meinung nach ansetzen?
In dieser Branche flüchten viele Arbeitgeber aus der Tarifbindung. Das kann und muss die Politik unterbinden, indem sie erleichtert, Tarifverträge für allgemeinverbindlich zu erklären. Der entscheidende Faktor für die Verbesserung der Arbeitsbedingungen ist die Personalstärke. Die von Gesundheitsminister Jens Spahn geplanten 13.000 neuen Stellen in Pflegeheimen sind zwar richtig, aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Außerdem muss es doch darum gehen, nicht nur neue Mitarbeiter einzustellen, sondern sie auch langfristig zu halten. Deshalb brauchen wir umgehend verpflichtende Personalschlüssel. Denn die Erfahrung zeigt: Wenn es keine klaren Vorgaben gibt, wird am Personal gespart.
Was fordern Sie konkret?
Bis das ab 2020 geplante wissenschaftliche Verfahren für die Bestimmung des Personalbedarfs in der Altenpflege vorliegt, benötigen wir eine Zwischenlösung als Sofortmaßnahme: Tagsüber eine Pflegekraft für zwei Bewohner, nachts müssen mindestens zwei Pflegekräfte im Wohnbereich anwesend sein. Und es muss dabei bleiben, dass mindestens die Hälfte des Personals Fachkräfte sind.
Wie viele Stellen werden dann zusätzlich gebraucht?
Das summiert sich nach unseren Berechnungen auf 129.000 Stellen.
Abgesehen davon, dass es die Bewerber dafür derzeit gar nicht gibt: Die privaten Heimbetreiber warnen, dass bei diesen strikten Vorgaben jedes vierte Heim dicht machen müsste.
Es ist doch klar, dass die Heimbetreiber das nicht wollen. Wenn wir allerdings die Arbeitsbedingungen nicht grundlegend durch mehr Stellen verbessern, dann werden die Heime auch schließen müssen – weil immer mehr Fachkräfte kündigen.
Was fordern Sie für die Krankenhäuser?
Die große Koalition hat beschlossen, dass es künftig für alle Abteilungen Personaluntergrenzen geben soll. Die gerade erzielte Einigung von Krankenkassen und Kliniken für Intensivstationen und andere Abteilungen mit einem hohen Pflegeaufwand lässt aber Schlimmes ahnen. Die Untergrenzen, die jetzt vereinbart werden sollen, drohen viel zu niedrig auszufallen und würden den schlechten Zustand eher zementieren. Wenn es Spahn ernst meint mit seinem Versprechen, die Arbeitsbedingungen in der Pflege zu verbessern, darf er den Kompromiss nicht akzeptieren. Wir brauchen nicht weniger Stellen, sondern mehr.
Wie viele?
In den USA betreut ein Krankenpfleger im Schnitt sechs Patienten. In den Niederlanden oder Schweden ist das Verhältnis eins zu sieben. In Deutschland eins zu dreizehn! In einem ersten Schritt muss unter anderem sichergestellt werden, dass in keiner Schicht mehr allein gearbeitet wird. Dafür brauchen wir 20.000 zusätzliche Vollzeitstellen.
Es bleibt die Frage, wie Sie Stellen besetzen wollen. Der Arbeitsmarkt ist leer. Der neue Pflegebeauftragte Andreas Westerfellhaus schlägt hohe Geldprämien für Bewerber und die Beschäftigten vor, die ihre Arbeitszeit aufstocken. Was halten Sie davon?
Gar nichts. Solange die Arbeitsbedingungen so mies sind, sind diese Prämien doch nur ein Schmerzensgeld. Die so gewonnenen Mitarbeiter werden bald wieder weg sein. Erst wenn sicher ist, dass die Pflege wieder ein attraktiver Job ist, wird es gelingen, dauerhaft Pflegepersonal zu finden.
Und wer soll in der Altenpflege die vielen neuen Stellen und die geforderten Tariflöhne bezahlen? Die von Ihnen verlangte Bürgerversicherung bleibt wegen des Widerstands der Union ja ein frommer Wunsch.
Es darf unter keinen Umständen dazu kommen, dass die Eigenanteile der Heimbewohner weiter steigen. Sonst sind immer mehr Menschen auf Sozialhilfe angewiesen. Wir schlagen vor, den in der vergangenen Wahlperiode gebildeten Vorsorgefonds für die Pflege aufzulösen und die jährlich eingeplanten 1,2 Milliarden Euro für mehr Personal zu verwenden. Allein damit können dauerhaft 40.000 Stellen finanziert werden. Zusätzlich benötigen wir Steuermittel. Aber sicher ist auch: An einer Anhebung der Beitragssätze werden wir nicht vorbeikommen.