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Brexit: Schlechte Laune in Großbritannien

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Von: Sebastian Borger

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Fans des Brexit gehen derzeit die Argumente aus, der mit dem EU-Austritt versprochene Aufschwung bleibt aus.
Fans des Brexit gehen derzeit die Argumente aus, der mit dem EU-Austritt versprochene Aufschwung bleibt aus. © Monika Skolimowska/dpa

Die Wirtschaft Großbritanniens leidet unter den Folgen des Brexit. Am dritten Jahrestag des EU-Austritts deuten viele Anzeichen auf eine Wiederannäherung der Insel an Brüssel hin.

Der dritte Jahrestag eines politischen Ereignisses lockt normalerweise keinen Hund hinterm Ofen hervor. Im Verhältnis des Vereinigten Königreiches zum europäischen Einigungsprojekt aber spielen in diesem Monat mehrere Daten eine signifikante Rolle. Zu Jahresbeginn war es 50 Jahre her, dass Großbritannien sowie Irland und Dänemark der damaligen EWG beitraten – ein schönes Jubiläum, das auf der Insel komplett ignoriert wurde. Das lag natürlich an jenem Jahrestag, der sich in diesen Tagen zum dritten Mal jährt: dem EU-Austritt in der Nacht vom 31. Januar zum 1. Februar 2020.

Und zehn Jahre ist nun bereits die Initialzündung für diesen Isolationsschritt her: Im Januar 2013 gab der damalige Premier David Cameron den Nationalpopulisten innerhalb und außerhalb seiner Partei nach und stellte eine Volksabstimmung über die britische EU-Mitgliedschaft in Aussicht. 52 Prozent zu 48 Prozent lautete im Juni 2016 das knappe Resultat.

Heute herrscht Katerstimmung: Laut der Konjunkturprognose des Internationalen Währungsfonds wird die britische Wirtschaft in diesem Jahr um 0,6 Prozent schrumpfen. Damit bildet Großbritannien das Schlusslicht der Prognose für die G7-Staaten und schneidet schlechter ab als das wegen seines Angriffskrieges gegen die Ukraine mit Sanktionen belegte Russland.

Brexit: Großbritanniens Wirtschaft leidet

Hintergrund für die düsteren Aussichten seien die Steuerpolitik der Regierung, die straffere Geldpolitik der Zentralbank und noch immer hohe Energiepreise, die den Geldbeutel der Haushalte belasteten, erklärte der IWF am Dienstag. Fachleuten zufolge sind es in nicht unerheblichem Maße Brexit-Folgen, die der Konjunktur zu schaffen machen.

Die Wachstumsschwäche sei vor allem auf den Mangel an Arbeitskräften zurückzuführen, sagte der Direktor des Institute for Fiscal Studies, Paul Johnson, der BBC. Auslöser sei unter anderem der Brexit gewesen, der Einwanderung aus der EU erheblich erschwere. Der EU-Austritt habe aber auch andere Probleme gebracht, die das Wirtschaftswachstum hemmten. Unter anderem leide die Konjunktur unter der politischen Instabilität.

Im Juni 2016 fühlten sich vor allem viele Engländer als Gewinner, die in den vernachlässigten Regionen der Insel leben. In der ostenglischen Grafschaft Lincolnshire stimmten damals mehr als 70 Prozent der Wahlberechtigten für den Brexit, und landesweit vornedran lagen mit 75,6 Prozent die Bewohner des Marktstädtchens Boston, Namensgeberin der viel berühmteren Siedlung auf der anderen Seite des Atlantiks.

Großbritannien: Hoffnungen der Brexit-Fans erfüllen sich nicht

Gehörten die rund 35 000 Bostonians damals zur Mehrheit der Bevölkerung, so stehen sie dieser Tage ganz allein. Einer Befragung des Marktforschers Focaldata für die Website Unherd zufolge befinden sich außer in Boston auf der Insel inzwischen überall jene in der Mehrheit, die den EU-Austritt für einen Fehler halten. Dazu gehören angrenzende Wahlkreise in Lincolnshire, traditionell konservative Hochburgen ebenso wie armselige, stets Labour-treue Bezirke in den Metropolen London und Birmingham, wo immerhin 60 Prozent den Brexit wollten. Anders als beim Referendum oder der Unterhauswahl 2019 würden zunehmend das Brexit-Votum und die Links-rechts-Ausrichtung der Briten wieder zusammenpassen, analysiert James Kanagasooriam von Focaldata: „Das Austrittsvotum verblasst und unterscheidet sich weniger von der konservativen Wählerschaft.“

Das ist, pünktlich zum dritten Jahrestag des EU-Austritts, keine gute Nachricht für die Tory-Regierung des Brexiteers Rishi Sunak, dem fünften konservativen Premierminister seit jenem Junitag, der Großbritanniens Innen- und Außenpolitik stark verändert hat. Denn die Torys liegen in den Umfragen regelmäßig um 20 Punkte hinter der Labour-Opposition unter Keir Starmer. Alle Beteuerungen des Regierungschefs und seiner zerstrittenen Partei, der Brexit werde herrlichen Fortschritt in vernachlässigte Regionen bringen, wirken angesichts der Realität immer unglaubwürdiger. Vielmehr treten immer klarer die Nachteile des Isolationsschrittes zutage.

Deutsche Interessen

Ein „wirtschaftliches Desaster“ ist der Brexit ist nach Ansicht der Deutschen Industrie- und Handelskammer (DIHK) sowohl für Großbritannien als auch die EU. Für deutsche Unternehmen herrsche weiterhin eine erhebliche Planungs- und Rechtsunsicherheit, sagte DIHK-Präsident Peter Adrian zum dritten Brexit-Jahrestag. „So besteht die Gefahr von Handelskonflikten, weil Großbritannien sich vom EU-Austrittsabkommen distanziert.“

Britische Pläne , von EU-Regeln abzuweichen, etwa beim Datenschutz oder bei Lebensmitteln, seien eine Belastung für deutsche Unternehmen, sagte Adrian weiter. Dies sei auch in den Handelszahlen zu beobachten: „Während Großbritannien im Jahr 2016 noch drittwichtigster Exportmarkt Deutschlands war, ist das Land im Jahr 2022 auf Platz acht abgerutscht.“

Deutsche Unternehmen haben laut DIHK mehr als 2100 Niederlassungen in Großbritannien und beschäftigen mehr als 400 000 Mitarbeiter:innen. Britische Unternehmen wiederum hätten in Deutschland 1500 Niederlassungen und knapp 300 000 Beschäftigte. dpa

Erst vor wenigen Tagen erschreckte die Hochschulbehörde Hesa den milliardenschweren Unisektor Großbritanniens mit neuen Hiobsbotschaften. Seit dem endgültigen Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion Ende 2020 ist die Zahl der Studierenden aus der EU um mehr als die Hälfte zurückgegangen. Konnten junge Deutsche, Italienerinnen oder Balten zuvor zum ohnehin hohen Preis von 9250 Pfund (10 515 Euro) pro Jahr auf der Insel studieren, müssen sie jetzt für denselben Bachelor-Abschluss in Bristol, Nottingham oder Cambridge bis zu 38 000 Pfund (43 190 Euro) berappen. Viel zu viel, finden die meisten.

Den Unis kann das nicht recht sein, werden sie dadurch doch noch abhängiger von Studierenden aus Asien. Dabei soll, nicht zuletzt unter dem Druck der Regierung, der hohe Anteil von Studierenden aus der kommunistischen Diktatur China in den kommenden Jahren merklich reduziert werden.

Brexit macht sich finanziell bemerkbar

Auch anderswo macht sich der Brexit finanziell schmerzhaft bemerkbar. Die unabhängige Budgetbehörde OBR spricht von einem Wachstumsverlust von vier Prozent, nicht zuletzt durch den „erheblichen Dämpfer“ für den britischen Außenhandel. Allein Exporte in die EU sind zuletzt um 15 Prozent zurückgegangen. Zur Unsicherheit von Industrie und Handel tragen die anhaltenden Streitigkeiten um den Sonderstatus von Nordirland bei.

Großbritanniens Exporte und Importe
Ein- und Ausfuhren Großbritanniens © Statista/FR

Dort ringen britische und EU-Unterhändler:innen um die Ausgestaltung des sogenannten Nordirland-Protokolls, das Teil des Austrittsvertrages war. Es soll die Landgrenze zur Republik im Süden offen halten, wie von der katholisch-nationalistischen Bevölkerung gefordert, aber gleichzeitig die Integrität des Binnenmarktes gewährleisten. Deshalb wurden zwischen Nordirland und der britischen Hauptinsel Zoll- und Einfuhrkontrollen fällig, was die königstreu-protestantischen Unionisten verärgert. Deren führende Partei DUP unter Jeffrey Donaldson spricht sogar davon, das Protokoll müsse gänzlich neu formuliert werden. Kommt nicht infrage, heißt es dazu aus Brüssel.

Als Hindernis für eine Einigung dürfte sich vor allem die Frage erweisen, inwieweit der Europäische Gerichtshof (EuGH) in etwaigen Streitfragen zwischen den Vertragsparteien als Schiedsrichter fungieren soll. Das lehnen Donaldson und die Tory-Hardliner bisher strikt ab. Nun sind die Diplomat:innen beider Seiten gefragt.

Immerhin sprechen manche Signale aus London für eine vorsichtige Wiederannäherung an den größten Binnenmarkt der Welt. Ebenso redet Oppositionsführer Starmer einem pragmatischeren Vorgehen gegenüber Brüssel das Wort, wie es sich auch das Wahlvolk mehrheitlich zu wünschen scheint. Bestärkt werden sie von vielen Prominenten, Hermann Hauser zum Beispiel. Wie viele andere Wissenschaftler hadert auch der in Wien geborene Physiker und Unternehmer mit dem Brexit seiner Wahlheimat. „Früher oder später“, hat der 74-Jährige kürzlich der BBC erläutert, werde das Königreich „wieder engere Beziehungen zur EU haben“. mit dpa

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