Bangladesch: Billige Kleidung, billig entlohnt

Nach den Katastrophen in Textilfabriken sind in Bangladesch die Kontrollen schärfer geworden. Doch von ihrem Verdienst können jene, die in den Hallen schuften, noch immer kaum leben Eine Reportage aus Dhaka
Kaum angekommen, stürmt Patrick Zahn die Treppen hoch. Etwas außer Puste tritt er im achten Stockwerk auf das flache Betondach der Fabrik hinaus. 35 Grad, feuchte Luft, die Sonne scheint grell. Der Chef des deutschen Textildiscounters KiK stattet hier in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch, einen Kontrollbesuch ab. „Jetzt den Schlauch anschließen“, verlangt ein mitgereister KiK-Manager.
„Feuerwehr“ und „Rettung“ steht auf den gelben Westen der beiden Arbeiter, die den grauen Schlauch ausrollen, die Düse aufsetzen, sich in Position stellen. Ein Dritter öffnet das Ventil. Meter für Meter schwillt die Leitung an, bis ein armdicker Strahl bräunlichen Wassers über das Dach schießt. Zufriedenheit in den Gesichtern. Das hat geklappt.
Zahn, hellblaues Freizeithemd, hochgekrempelte Ärmel, Sportschuhe, lässt sich erklären, was die Eigentümer der Fabrik tun, um Brände zu vermeiden und zu bekämpfen. „Nun wollen wir einen elektrischen Schaltschrank sehen“, fordert sein Mitarbeiter. Die 20-köpfige Gruppe steigt das Treppenhaus wieder hinab.

Für sehr günstige Bekleidung ist KiK in Deutschland bekannt. Eine Herrenhose bekommt man in den Geschäften schon für 6,99 Euro, T-Shirts ab 3,99 Euro, Sportschuhe ab 9,99 Euro. Von diesem Billig-image ist nichts zu spüren, als die KiK-Delegation einige ihrer Lieferanten in Asien besucht. Im Gegenteil: Patrick Zahn tritt hier als anspruchsvoller Kunde auf, der Qualität einfordert. Er drängt darauf, dass die Fabriken, die die KiK-Textilien herstellen, Millionen Euro in die Sicherheit ihrer Beschäftigten investieren. Zahn bearbeitet ein Trauma: Vor neun Jahren stürzte die Fabrik Rana Plaza in Dhaka ein. Mehr als 1100 Arbeiterinnen und Arbeiter starben, 2500 weitere wurden verletzt.
Wie ist die Situation heute? Passt das wirklich zusammen – billige Klamotten und gute Arbeit?
Ventilatoren surren unter den niedrigen Decken. Neonlicht erleuchtet lange Reihen von Nähmaschinen. Dutzende Arbeiterinnen und Arbeiter sitzen eng hintereinander, mehrere Herstellungslinien nebeneinander. Dazwischen Berge von Stoffen, Stapel von Einzelteilen, die am Ende zu Kleidungsstücken zusammengefügt werden. Hunderte Male täglich zieht jede und jeder Beschäftigte an der Maschine dieselben zwei, drei Nähte, gibt die Stücke an die Kolleginnen und Kollegen weiter, die die nächsten Schritte ausführen. Kurze, präzise Handgriffe, alles geht sehr schnell. Schwere Arbeit, die leicht aussieht. Bis zu elf Stunden täglich, sechs Tage pro Woche. Ein Arbeiter öffnet den Schaltschrank in einer Ecke des Produktionsgeschosses. Zahns Leute schauen sich die Verdrahtung an. Reicht sie für die Stromstärke, in welchem Zustand sind die Sicherungen?

KiK hat von seinen Zulieferern in den vergangenen Jahren verlangt, die Elektrik zu modernisieren, denn Kurzschlüsse können Brände auslösen. Nun wird der Strom im gesamten Stockwerk gekappt. Das Rauschen der Propeller und Maschinen verstummt. Leuchten die Schilder über den Notausgängen trotzdem, damit das Personal bei Bränden den Weg nach draußen findet? Und funktionieren die Alarmsirenen in allen Stockwerken? Abgehacktes, lautes Tröten. Okay, Zahn nickt, hört sich gut an.
Weiter zum Check der Feuerlöscher im Erdgeschoss. Vorbei an den Näherinnen und Nähern, die die Fremden fasziniert und ein bisschen ängstlich betrachten, hetzt der Tross weiter. Mit dabei immer ein paar Helfer, die eilfertig Papiertücher reichen, wenn den Gästen der Schweiß über die Gesichter rinnt.
Die KiK-Leute drängeln. Sie setzen die einheimischen Manager unter Druck. Der Besuch war zwar angekündigt, aber erst vor Ort entscheiden Zahn und seine Leute, was genau sie sehen wollen. Die Fabrik soll keine Chance haben, zu schummeln. Alle Sicherheitssysteme müssen jederzeit funktionieren. „Wir reden Tacheles und lassen uns nicht einlullen“, sagt der KiK-Chef. „Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es der größte Fehler ist, wenn man zunächst mit den Besitzern im Büro plaudert und sich dann erst etwas zeigen lässt.“
Der Textildiscounter KiK spürte „Bedenken“ der Kundschaft
Es geht hier um viel. In dem Fabrikgebäude Rana Plaza, das 2013 einstürzte, waren auch Textilien für KiK hergestellt worden. So etwas soll nicht noch einmal passieren. Damals merkten viele Kundinnen und Kunden in Europa erst, unter welch katastrophalen Bedingungen die Konsumgüter hergestellt wurden, die hiesige Geschäfte anboten. Hatte KiK als Textildiscounter in wohlhabenden Bevölkerungsschichten vorher schon keinen guten Ruf, sackte das Image nun noch mehr ab. „Viele Bürger hatten Bedenken, ob sie unsere Produkte kaufen können“, sagte Zahn in einem Interview. Und „neue Mitarbeiter zu finden, gestaltete sich zeitweise schwierig, weil Vorbehalte gegen die Firma bestanden.“
Auch wegen Rana Plaza beschloss der Bundestag im vergangenen Jahr das Lieferkettengesetz. Ab Anfang 2023 müssen alle in Deutschland tätigen Unternehmen mit mehr als 3000 Beschäftigten die sozialen und ökologischen Menschenrechte der Arbeiterinnen und Arbeiter ihrer weltweiten Zulieferfabriken schützen, unter anderem für Gebäudesicherheit und Brandschutz sorgen – in allen Branchen, nicht nur der Textilwirtschaft. Und bald dürfte eine EU-Richtlinie folgen, die schärfer ausfällt als das deutsche Gesetz.

Zwei Autostunden von der Zulieferfabrik entfernt sitzt Amirul Haque Amin an einem langen, blauen Tisch im fensterlosen Besprechungsraum. Seine Mitarbeiterin bringt Kaffee. Die Wände sind mit farbenfrohen Flugblättern für Demonstrationen, Plakaten, Aufrufen und Zeitungsausschnitten tapeziert, auf vielen ist Amin, der Boss, zu sehen. Er leitet die Nationale Textilarbeiter-Gewerkschaft von Bangladesch – die größte und älteste derartige Organisation, wie er sagt.
Ihm reicht nicht, was KiK tut. Ja, das Leben der Beschäftigten sei nun besser geschützt, meint er. Was aber ist mit dem Lohn?
8000 Taka betrage der staatlich festgesetzte Mindestlohn, erklärt der Mann mit den kurzen, grauen Haaren, umgerechnet rund 85 Euro für einen Monat Arbeit. Bangladesch ist ein armes Land. Dort leben doppelt so viele Menschen wie in Deutschland, ihnen steht aber nur etwa ein Zehntel dessen Wohlstandes zur Verfügung. Also sind die Löhne viel niedriger. In einem armen Land produzieren lassen, in einem reichen verkaufen – das ist ein Mechanismus der Globalisierung.
Der monatliche Mindestlohn beträgt umgerechnet gerade mal 85 Euro
Auch seine 100 Zulieferer im Land zahlen den Mindestlohn, erklärt KiK, plus Zuschläge für höhere Qualifikation und Überstunden. So erhalten viele Beschäftigte Monatsverdienste von bis zu 13 000 Taka, ungefähr 136 Euro. „Aber das ist nicht genug“, schimpft Amin, „es müssten mindestens 20 000 sein“, umgerechnet rund 210 Euro.
An seinem einzigen freien Tag der Woche ist heute ein Arbeiter zu Amin ins Büro gekommen – extra, um mit dem Journalisten zu sprechen. Hossain, 25 Jahre, ist Näher in einer der KiK-Fabriken. Mit Vater, Mutter, Schwester und Bruder lebt er in einer Zwei-Zimmer-Wohnung. Der Vater arbeitet auf dem Bau, Hossain selbst bringt 13 000 Taka nach Hause. Er rechnet vor: Die Miete kostet fast 10 000, die Lebensmittel für einen Monat 15 000. Damit seien die beiden Einkommen nahezu aufgebraucht, mit den täglichen Busfahrten, Kleidung und Hygieneartikeln wird es schon knapp. Für Arztbesuche etwa bleibt nichts übrig. Als sein Bruder krank wurde, berichtet Hossein, habe er einen Kredit für die Behandlung aufgenommen, den er bis heute abbezahle. Eine öffentliche Krankenversicherung gibt es in Bangladesch nicht.
Existenzsicherndes Einkommen, „living wage“, heißt das Konzept, das Gewerkschafter wie Amin dieser harten Realität entgegensetzen. Für Bangladesch sollte es zwischen dem Zweieinhalb- und Fünffachen des Mindestlohns liegen, je nach Berechnung verschiedener Organisationen. Und wie wird das Wirklichkeit? „KiK könnte seinen Lieferanten höhere Einkaufspreise zahlen“, schlägt Amin vor. Diese Prämie müssten die Fabriken dann an ihre Beschäftigten weiterreichen. Heute sei das Gegenteil die Regel: Die europäischen und US-amerikanischen Firmen würden ihre Lieferanten in Bangladesch gegeneinander ausspielen, deren Preise drücken und damit verhindern, dass die Gehälter der Arbeiterinnen und Arbeiter steigen.
Um Lohnerhöhungen drücken sich die großen Konzerne herum
Patrick Zahn ist auf dem Weg zur nächsten Fabrik. Der Chauffeur lenkt. Man sitzt klimatisiert auf der Rückbank des geräumigen Toyota-SUV. Außerhalb der getönten Scheiben spielt sich das tägliche Gewühl des Straßenverkehrs der 18-Millionen-Einwohner:innen-Stadt Dhaka ab. Hitze, Staub, Stau, alle hupen. Wo immer eine Gasse entsteht zwischen Autos, Bussen und Containertransportern, quetschen sich Motorrikschas und Mopeds hindurch, auf denen manchmal ganze Familien sitzen.
„Ich will mit gutem Gewissen ins Bett gehen können“, sagt der 45-jährige Manager. Seit 2016 führt er KiK im Auftrag der Eigentümer, der Tengelmann-Gruppe. Zuvor leitete er dort den Vertrieb. Der Zusammenbruch der Fabrik Rana Plaza, die Toten und das Leid der Hinterbliebenen hätten ihn „tief angetrieben, das Unternehmen zu verändern“. Wenn er hinzufügt, „das haben wir geschafft“, wirkt er im Reinen mit sich.
Was aber ist mit den miesen Löhnen in den Textilfabriken? Mehrere Argumente zählt Zahn dazu auf. Erstens: Die Fabriken gehören nicht KiK, sondern selbstständigen Unternehmern in Bangladesch. Zahn zahlt Preise für Lieferungen, nicht Löhne für Beschäftigte. Für letztere sei nicht er als Auftraggeber verantwortlich. Sondern – zweitens – unter anderem die Regierung von Bangladesch, die den Mindestlohn festlege.
Kann ein Discounter höhere Einkaufspreise nicht verschmerzen?
Drittens will Zahn nicht andere Firmen wie Aldi, Lidl, Pepco oder Inditex (Zara) subventionieren, die teilweise in denselben Zulieferfabriken produzieren lassen. Zahlte KiK einseitig höhere Preise, hätten diese Konkurrenten einen Kostenvorteil, weil sie sich nicht beteiligen.
Aber kann der Discounter leicht höhere Einkaufspreise nicht verschmerzen, wenn er sie an seine Kunden in den Geschäften weiterreicht? Schließlich ist der Anteil des Arbeitslohns, der beispielsweise in einer Zehn-Euro-Jeans steckt, so gering, dass schon ein Aufschlag von etwa 50 Cent im Endkundenpreis ausreichen würde, um die Verdienste der Zulieferbeschäftigten ungefähr zu verdoppeln – wenn sie diese Prämie auch ausgezahlt bekämen.
„Kunde ist König“ – dafür steht die Abkürzung KiK. Vergleichsweise arme Menschen können sich beim Discounter für vielleicht 40 Euro von den Schuhen bis zur Jacke einkleiden. Wer Hartz IV bezieht oder einen Niedriglohn – diese Gruppe umfasst in Deutschland ungefähr ein Fünftel der Bevölkerung – spüre einen Preisaufschlag von 50 Cent pro Kleidungsstück durchaus und gehe dann mitunter lieber zur Discount-Konkurrenz, sagt Zahn. KiK verliere damit Marktanteil, fürchtet der Manager. Ein schwieriges Argument: Niedrige Löhne in Deutschland begründen dann niedrige Löhne in Bangladesch. Armut rechtfertigt Armut.
Nur kleinere Unternehmen halten sich bislang an die Standards für fairen Handel
Zahn ärgert sich. Wer ist denn Mitglied im Bangladesh Accord und wer nicht? Das ist ein Vertrag zwischen internationalen Auftraggebern und Gewerkschaften, erstmals abgeschlossen 2013 als Reaktion auf die Rana Plaza-Katastrophe. Rund 1700 Textilfabriken in Bangladesch werden regelmäßig kontrolliert, ob sie baulich stabil und gegen Feuer geschützt sind. Fast 200 global agierende Unternehmen machen mit – aus Deutschland unter anderem Adidas, Aldi, Esprit, Hugo Boss, Lidl, Rewe. Und KiK. Händler wie New Yorker, Tedi, Woolworth oder auch Pepco aus Polen fehlen auf der Liste des Accords dagegen. „Wir haben einige Wettbewerber, die niedrigere Standards praktizieren als KiK und von unseren Anstrengungen profitieren“, sagt Zahn. Bei Kritik solle man sich doch in erster Linie diese Firmen vorknöpfen und nicht ständig in seinem Unternehmen nach Problemen suchen. Er fühlt sich ungerecht behandelt.
Seit Jahren bewegt sich in der Lohnfrage so gut wie nichts. Der Stillstand liegt auch an KiK, aber nicht nur. Die anderen europäischen und nordamerikanischen Auftraggeber tun ebenfalls nichts. Bei den Lohnkosten schlagen sich die großen Marken insgesamt in die Büsche. Ihre Zulieferer zahlen meist nur die von den Regierungen der Produktionsländer festgesetzten Mindestlöhne plus Überstunden. Wobei die Untergrenze bloß bei einem Drittel oder Viertel dessen liegt, was Organisationen wie die Asia Floor Wage Alliance, ein Zusammenschluss von Aktivist:innen, Gewerkschafter:innen und Wissenschaftler:innen, als existenzsichernde Bezahlung errechnen. Ausnahmen praktizieren allenfalls kleine Unternehmen, die sich an Fairtrade-Standards orientieren, wobei deren Marktanteil über eine Nische im Textilhandel bisher nicht hinauskommt.

Zwar geht Patrick Zahn die ständige Lohndebatte auf die Nerven, jedoch scheint sie bei ihm auch etwas zu bewegen. Nach einigen Tagen gemeinsamen Fabrik-Hoppings formuliert er eine Idee: Ließe sich der Bangladesh Accord nicht um eine soziale Säule erweitern? Wie wäre es, wenn Kundinnen und Kunden, Lieferanten und Gewerkschaften gemeinsame branchenweite Lohnerhöhungen vereinbarten, die den großen Vorteil beinhalteten, dass sie für die Mehrheit der Firmen gleichermaßen gelten? Nicht einzelne Unternehmen liefen damit Gefahr, die Kosten alleine zu tragen und ihre Marktposition zu verschlechtern. Ein wesentliches von Zahns Argumenten gegen auskömmliche Verdienste in der Lieferkette fiele damit weg.
Gewerkschafter Amin kann der Idee etwas abgewinnen – grundsätzlich. Im nächsten Moment ist er jedoch skeptisch: „Wollen die das wirklich?“ Oder ist es wieder nur ein Vorschlag, um Zeit zu gewinnen? Das lässt sich augenblicklich schwer sagen. Schneller ginge es wahrscheinlich, wenn KiK zusammen mit anderen Konzernen ein Pilotprojekt zum Existenzlohn in einigen Zulieferfirmen startete und einfach mal anfinge.