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Die Vergessenen der Rana-Plaza-Fabrik

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Von: Philipp Hedemann

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Nilufer Begum
Auch Nilufer Begum wurde bei dem Einsturz der Rana-Plaza-Textilfabrik verletzt. © afp

Vor sechs Jahren stürzte die Rana-Plaza-Textilfabrik in Bangladesch ein. 1135 Menschen starben, Tausende wurden verletzt. Opfer und Angehörige leiden bis heute.

Mach Dir keine Sorgen, Mama. Wenn die Risse gefährlich wären, würden sie uns ja nicht in die Fabrik lassen“, sagte Shonjeet zu seiner Mutter. Dann ging er zur Arbeit. Eineinhalb Stunden später stürzte die Rana Plaza-Textilfabrik in Sabhar, einem Vorort von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka, ein und begrub Tausende Arbeiterinnen und Arbeiter unter sich. 2438 Menschen wurden zum Teil schwer verletzt, 1135 Menschen starben, der 19-jährige Shonjeet war einer von ihnen. Heute, am 24. April, jährt sich der Einsturz zum sechsten Mal. Während viele der Opfer noch immer unter den Folgen leiden, will Bangladesch internationale Inspektoren, die weitere Katastrophen verhindern sollen, des Landes verweisen.

„Dem Fabrikbesitzer war sein Profit wichtiger als das Leben Tausender Arbeiter. Für ihn waren es gar keine Menschen. Sonst hätte er sie doch gar nicht in die Fabrik gelassen, nachdem die Risse aufgetaucht waren“, sagt Shonjeets Mutter Shunno Balas in ihrer Wellblechhütte in Sabhar. Mit ihrem Kopftuch wischt sie sich Tränen aus den Augen.

13 Tage nachdem das Rana Plaza unter dem Gewicht mehrerer illegal aufgestockter Etagen einstürzte, entdeckte ihr Mann Shonjeet in einer zum Leichenschauhaus umfunktionierten Schule. Seiner Frau verbot er, noch einen letzten Blick auf ihren Sohn zu werfen. Sie sollte ihn so in Erinnerung behalten, wie er an seinem letzten Lebenstag zur Arbeit ging und nicht so, wie er fast zwei Wochen später aus den Trümmern gezogen wurde. 

Alam Matabbar hingegen wollte seine Frau Begum sehen, selbst wenn die Trümmer ihr schönes Gesicht bis zur Unkenntlichkeit entstellt hätten. Auch sie starb unter den Trümmern der eingestürzten Textilfabrik. Sechs Monate irrte er mit einem Bild der Mutter seiner vier Kinder von Leichenschauhaus zu Leichenschauhaus. Schon nach Wochen sagten seine Freunde, dass er sein Schicksal akzeptieren solle. Doch er hoffte bis zuletzt, dass seine Frau überlebt habe, sie beim Einsturz lediglich ihren Namen vergessen und ihr Gedächtnis verloren hätte. 

Alam Matabbar und drei seiner vier Kinder
Alam Matabbar und drei seiner vier Kinder mit einem Foto von Begum. Sie wird seit der Katastrophe vermisst. © Philipp Hedemann

Begum gehört zu den Arbeiterinnen und Arbeitern, die auch sechs Jahre nach dem Einsturz noch vermisst werden. „Vielleicht hat die Regierung ihre Leiche beiseitegeschafft, um die Zahl der Opfer zu senken. Vielleicht wurden ihr Organe entnommen“, sagt der Witwer in einer winzigen Wohnung in einem Armenviertel von Sabhar. Nur wenige Hundert Meter von hier klafft dort, wo bis zum 24. April 2013 das Rana Plaza stand, eine große Baulücke. Ein unscheinbares Denkmal erinnert an Begum und die 1135 offiziell registrierten Opfer der Katastrophe.

Shumitra wäre beinahe die Nummer 1136 auf dieser Liste geworden. Wenn sie sich an den Morgen jenes 24. Aprils erinnert, fängt sie an zu zittern. „Ich hatte gerade angefangen zu arbeiten, als plötzlich das ganze Gebäude anfing zu schwanken. Ich bin sofort losgerannt, aber dann brach alles über mir zusammen“, erinnert sich die Textilarbeiterin. Im dritten Stock der einstürzenden Fabrik durchbohrte eine Eisenstange ihre rechte Hand, Trümmer trafen sie am Kopf, ihre Beine wurden unter Schutt begraben, Shumitra verlor das Bewusstsein. Nach fünf Tagen wurde sie aus den Trümmern geborgen. Als sie zwei Tage später im Krankenhaus aufwachte, hatte sie nur eine Frage. „Lebt Shabitree?“ Mit gefälschten Papieren hatte sich ihre damals erst dreizehnjährige Tochter Shabitree als volljährig ausgegeben und in der gleichen Fabrik wie ihre Mutter einen Job angenommen, um zum Familieneinkommen beitragen zu können. Auch Shabitree hatte den Gebäudeeinsturz überlebt. Heute arbeitet sie wieder in einer Textilfabrik. „Jeden Morgen, wenn sie zur Arbeit geht, habe ich Angst um sie“, sagt Shumitra, die seit sechs Jahren unter Panikattacken leidet.

Damit sich eine Katastrophe wie im Rana Plaza nicht wiederholt, gründeten 200 westliche Unternehmen wie C&A, H&M, Esprit, Puma, Tchibo, Mango, S.Oliver und O’Neill zusammen mit lokalen Gewerkschaften im Mai 2013 das Brandschutz- und Gebäudesicherheits-Abkommen Accord. Die Initiative inspizierte rund 1600 Fabriken, in denen fast zwei Millionen Frauen und Männer arbeiten. Die Experten sorgten dafür, dass neue Rettungstreppen, Notausgänge, Brandmelder und verstärkte Zwischendecken gebaut wurden und gaben Textilarbeitern Sicherheitstrainings. Fabriken, die den Vorgaben nicht nachkamen, setzten sie auf schwarze Listen und schlossen sie so von Aufträgen internationaler Kunden aus. Der Erfolg ist unbestritten. Seit sechs Jahren gab es keine schweren Unglücke in den Textilfabriken des Landes. Und dennoch machen Fabrikanten Stimmung gegen das Abkommen.

„Nach Rana Plaza musste etwas geschehen. Aber der Accord ist nicht fair“, sagt Mohammed Aminul Islam, Betriebsleiter der Firma Intramex auf dem Fabrikgelände in Gazipur. In der Textilstadt nördlich von Dhaka produziert seine Firma mit 4900 Mitarbeitern unter anderem Hosen, Hemden und T-Shirts für den Export. 75 Prozent der Angestellten sind Frauen. Einige von ihnen wurden ausgewählt, um mit dem Journalisten aus Deutschland zu sprechen. Sie fühlten sich an ihrem Arbeitsplatz sicher. Natürlich hätten sie nichts dagegen, wenn sie für ihre Arbeit besser bezahlt würden, aber sie kämen auch so ganz gut über die Runden. Gewerkschaftlich organisiert seien sie nicht, aber das sei auch gar nicht nötig, weil die Gewerkschaften die Verhältnisse in den Fabriken ohnehin nicht genau kennen, sagen die überwiegend jungen Frauen. Ihre Antworten wirken teils auswendig gelernt, werden von ihren Vorgesetzten meist mit einem wohlwollenden Nicken quittiert.

Dann spricht der Betriebsleiter. Der Accord habe seine Firma zu Investitionen in Höhe von mehreren Hunderttausend Dollar gezwungen. Oft seien die Fristen dabei sehr kurz gewesen und die Vorgaben stünden teils im Widerspruch zu einheimischen Gesetzen. „Es ist einfach ungerecht, dass der Accord nur in Bangladesch gilt. Die internationalen Käufer verlangen von uns immer höhere Investitionen für die Sicherheit, sind aber nicht bereit, mehr zu zahlen. Im Gegenteil: Sie drohen damit, in einem billigeren Land zu produzieren. Sie erpressen uns“, sagt der Manager wütend.

Viele Textilfabrikanten denken wie Mohammed Aminul Islam. Und sie haben eine mächtige Lobby. Nach China ist Bangladesch der zweitgrößte Textilexporteur der Welt. 83 Prozent der Ausfuhren Bangladeschs werden in der Textilbranche erwirtschaftet. Im vergangenen Jahr wurden Textilien im Wert von umgerechnet 26,5 Milliarden Euro ausgeführt. In den rund 4000 Textilfabriken des Landes arbeiten etwa 3,6 Millionen Menschen, zwei Drittel von ihnen sind Frauen. Der Boom der Branche hat maßgeblich dazu beigetragen, dass das Pro-Kopf-Einkommen sich zwischen 2010 und 2017 verdoppelt hat und die Wirtschaft seit 2008 um durchschnittlich mehr als sechs Prozent pro Jahr zulegte. Viele Politiker stört es zudem, dass eine ausländische Organisation wie der Accord hoheitliche Aufgaben übernimmt. 

Shunno Balas
Shunno Balas zeigt ein Foto ihres Sohnes Shonjeet, der in den Trümmern gestorben. © Philipp Hedemann

Im Mai letzten Jahres entschied der Oberste Gerichtshof, dass der Accord seine Arbeit beenden solle. Weil Bangladesch jedoch noch nicht in der Lage sei, selbst für die Sicherheit der Beschäftigten in der Branche zu sorgen, setzte Accord sich zur Wehr. Eine endgültige Entscheidung des Gerichts wurde bereits acht Mal verschoben, der nächste Termin ist für den 19. Mai angesetzt.

Die Hilfsorganisation CARE, die in zehn Ländern Asiens Projekte zur Förderung von Frauenrechten im Textilsektor umsetzt, spricht sich für eine Fortsetzung des Accords aus: „Er trägt zur Sicherheit der Textilarbeiterinnen bei. Da die Mehrheit der Arbeitskräfte Frauen sind, ist ihre Sicherheit am Arbeitsplatz aber auch durch Übergriffe, sexuelle Belästigung und Willkür von Vorarbeitern gefährdet“, sagt Judith Albert, Referentin für Unternehmenskooperationen bei CARE Deutschland. Auch die Bundesregierung, das EU-Parlament und viele Modefirmen forderten Bangladesch zu einer Fortsetzung der Zusammenarbeit auf.

Für Shunno Balas, deren Sohn Shonjeet vor sechs Jahren unter den Trümmern des Rana Plazas starb, wäre die Ausweisung der Kontrolleure eine weitere Katastrophe. „Wenn der Profit der Besitzer wieder wichtiger wird als die Sicherheit der Arbeiter, wäre Shonjeet umsonst gestorben.“ 

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