Aufstand der Ausgebeuteten

Auf einer Raststätte bei Darmstadt streiken Lastwagenfahrer aus Georgien und Usbekistan, weil sie seit rund 50 Tagen keinen Lohn bekommen haben sollen.
Im wuchtigen Führerhaus von Giorgi Arveladze (Name geändert) darf eines nicht fehlen: ein weißer, weicher Teddybär, der auf dem Armaturenbrett sitzt. Er erinnert den Lkw-Fahrer an sein Kind in der georgischen Heimat und daran, warum er das alles auf sich nimmt und nicht aufgibt. „Ich habe meine Familie seit über einem Jahr nicht gesehen“, sagt Arveladze, ein hagerer, offener Mittdreißiger, der gerne auf Menschen zugeht und vor allem auf den Straßen zwischen Deutschland und Südeuropa unterwegs ist. In seiner Stimme schwingt Trauer mit, aber auch die Erkenntnis, dass er keine Wahl hat. „Meine Frau arbeitet nicht. Wenn ich kein Geld schicke, hat sie nichts zum Leben, genauso wie meine Eltern und andere Verwandte.“ In Georgien gibt es kaum Arbeit.
Giorgi Arveladze braucht seinen Job; an Konflikten mit seinen Chefs habe er kein Interesse, weshalb er vieles geschluckt habe. Doch jetzt sei Schluss, er werde nicht nachgeben. Seit rund 50 Tagen warte er auf seinen Lohn, bei einem Tagessatz von etwa 85 Euro fehlten somit 4250 Euro in der Kasse. Die Familie sei in Not und müsse hungern.
Giorgi Arveladze wehrt sich.
Der Georgier ist einer von gut 40 Fahrern, die am Donnerstag an der Autobahnraststätte Gräfenhausen-West bei Darmstadt streiken. Die meisten der Männer sind Landsleute von Arveladze oder kommen aus Usbekistan und machen ähnliche Forderungen geltend, im mittleren vierstelligen Euro-bereich. Die vielen blauen, dicht an dicht stehenden Lastwagen gehören zu der polnischen Firmengruppe Mazur und sollen sich so lange nicht bewegen, bis die Beschäftigten das ihnen zustehende Geld oder zumindest einen Großteil davon bekommen.
Es ist nicht der einzige Arbeitskampf in dem Unternehmen: Auch in Niedersachsen, Südtirol und der Schweiz legten insgesamt mehr als 100 Osteuropäer die Arbeit nieder und erhoben ihre Stimme. „Die haben in Europa mehr als 1000 Lkw auf der Straße. Ich habe noch keinen Fahrer kennengelernt, der mir nicht von Problemen mit dem Gehalt berichtet hat“, kritisiert Arveladze. So seien beispielsweise die Löhne ständig aus irgendwelchen Gründen gekürzt worden, etwa weil ein Gerät im Wagen kaputtgegangen sei. Ein Fahrer habe dies gemeldet und die Kosten selbst übernehmen müssen.
In Kooperation mit georgischen Kolleg:innen unterstützen Edwin Atema von der niederländischen Gewerkschaft FNV und Anna Weirich von der Beratungsstelle Faire Mobilität, die zum Deutschen Gewerkschaftsbund gehört, die Betroffenen. Sie kommunizieren und verhandeln mit der Familie Mazur.
Als es mal wieder beginnt, in Strömen zu regnen, sucht eine größere Gruppe Schutz in einem leeren Lkw. Ein Streikender gibt Weirich die Hand und hilft ihr auf die Ladefläche. Sie spricht fließend Russisch und tauscht sich immer wieder mit den Fahrern aus, fragt nach Forderungen und Dokumenten. „Wie ist der aktuelle Stand?“, wollen sie regelmäßig wissen.
Ursprünglich sei der Streik dadurch ausgelöst worden, dass der Sonntag nicht mehr bezahlt worden sei, erzählt Weirich, die wie Atema auf Logistik spezialisiert ist. Dann hätten die beteiligten, miteinander verflochtenen Betriebe keine Löhne mehr überwiesen. Die Fahrer, bemängelt die Gewerkschafterin, seien über eine Art Dienstleistungsvertrag scheinselbständig beschäftigt. Dabei hätten sie einen Arbeitgeber, der ihnen ein Fahrzeug zur Verfügung stelle und Anweisungen gebe. „Mit dem Modell wird das unternehmerische Risiko auf die Beschäftigten abgewälzt und Ausbeutung Tür und Tor geöffnet.“ Abgesehen von der schlechten Bezahlung würden sie auch keine Rentenansprüche erwerben. Selbst wenn man acht Stunden tägliche Arbeit – wobei in der Branche eher 13 bis 15 Stunden realistisch seien – zugrundelegen würde, läge ein Satz von 80 Euro unter dem gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde.
Firmenchef Lukasz Mazur und ein weiterer Verantwortlicher weisen alle Vorwürfe zurück. Sie sind angereist – und haben in Kleinbussen Ersatzfahrer mitgebracht. Zuvor sollen sie den Streikenden angeboten haben, nach Polen zu kommen und sich mit ihnen zu einigen, was die Fahrer ablehnten, weil sie kein Vertrauen mehr haben. Die Bosse stehen schräg gegenüber, neben ihren Luxusautos. Sie handelten stets rechtmäßig, betonen sie. Etwas anderes könne er sich auch nicht erlauben, sagt Mazur, er trage Verantwortung für ein großes Unternehmen mit vielen Lkw und Mitarbeitern und werde oft kontrolliert. Die Löhne würden gezahlt. Richtig sei, dass die Sonntagsvergütung wegen eines kurzzeitigen Mangels an Aufträgen ausgesetzt worden sei.
Das sei allerdings nur vorübergehend so gewesen. Die Arbeitsverträge seien legal. Sie könnten den Aufstand nicht nachvollziehen, sagen die Chefs, und müssten nun wahrscheinlich hohe Strafen zahlen, weil sie Kundenaufträge nicht rechtzeitig erfüllen könnten. Weder würden sie Fahrer unter Druck setzen noch ausbeuten, und die als Ersatz mitgekommenen Leute seien über die Situation aufgeklärt worden. Mehrere von ihnen sollen allerdings nicht gewusst haben, dass sie nur geholt worden seien, um einen Streik zu brechen, und sich solidarisch erklärt haben. Die Fahrer kennen sich zum Teil und sind einander verbunden. Einer meint, er fahre nur bei einer Einigung los. Die Polizei ist vor Ort und beobachtet die Lage. Die Situation wirkt grotesk – und bildet doch die Realität in der ausbeuterischen europäischen Arbeitswelt ab, die kaum jemand so gut kennt wie Weirich und Atema. Der Niederländer trägt einen Kapuzenpulli und pflegt einen höflichen Plauderton, aber in der Sache lässt er nicht locker, streitet mit den polnischen Bossen für seine Schützlinge. Der Konzern sei schon mal negativ aufgefallen, erinnert er sich, mit Fahrern aus Asien. Gleichzeitig betont er, dass alle in der Lieferkette Verantwortung für solche Missstände trügen, weshalb seine Gewerkschaft mit den Großkunden der Lkw-Branche verhandele, um sie in die Pflicht zu nehmen.
Giorgi Arveladze und einige andere können über die Worte ihrer Vorgesetzten nur müde lächeln. Er ruft auf dem Handy seinen Kontostand auf, zeigt die Buchungen: „Siehst du, da kam kein Gehalt. Ich habe nur noch wenige Zloty.“ Er werde das nicht dulden, verlange sein Geld und wolle dann eine neue Stelle suchen. Eigentlich liebe er seine Arbeit – aber nicht unter diesen Bedingungen.
In einem der Lkw, die für die Männer zu ihrem Zuhause geworden sind, haben sie auf Europaletten und Brettern eine Küche eingerichtet. Ein Gaskocher läuft auf Hochtouren, es gibt Leberkäse und Würstchen mit Zwiebeln, dazu Vollkornbrot und Brezeln. Ein Fahrer zeigt auf seinem Handy Selfies vor seinem Laster, in tiefstem Schnee, bei Regen, in einer steppenartigen Landschaft. „Unsere Arbeit ist verdammt hart“, sagt er. Sie müssten schuften, immer funktionieren, auch wenn sie nicht mehr können, und viele Entbehrungen auf sich nehmen. „Wir wollen leben, sind Menschen, werden aber nicht so behandelt.“ Warum?, fragen seine Augen. Ein paar Meter weiter lässt ein Fahrer an seinem Lkw Wasser aus einem Kanister, wäscht sein Gesicht und putzt sich dann die Zähne. Ein anderer kniet, richtet die Hände gen Himmel und betet zu Allah.
Am Freitag geht der Streik weiter, die Firma hat kein annehmbares Angebot gemacht. Andernorts soll das Versprechen zu zahlen, wenn der Lkw ausgeladen wird, nicht gehalten worden sein. Weitere Fahrer steuern mit ihren Lkw Gräfenhausen-West an, am Abend werden insgesamt 55 gezählt. Sie unterstützen den Aufstand und wollen nicht weichen.
