Atomkraft vor Comeback in Japan

Der Krieg in der Ukraine und die Inflation sorgen in Japan für ein Umdenken: Sollte man elf Jahre nach dem Atom-GAU von Fukushima die Kernkraft wieder nutzen?
Nur ein „temporäres Phänomen“ seien all die steigenden Preise, erklärte Haruhiko Kuroda Mitte März. Japan erlebt derzeit parallel die höchste Inflationsrate im Großhandel sowie den schwächsten Außenwert des Yen seit einigen Jahren. Einen Grund zur Beunruhigung will der Notenbanker Kuroda darin aber demonstrativ nicht sehen: Zu den Folgen der Pandemie und all ihren Beschränkungen, die teils zu Verknappungen führten, sei nun eben der Ukraine-Krieg gekommen, durch den Öl- und Gaspreise steigen. Und beides, so scheint Kuroda zu implizieren, werde bald vorübergehen.
Es ist eine Einschätzung, die längst nicht überall auf der Welt geteilt wird. Mehrere Zentralbanken großer Volkswirtschaften haben einen Ausstieg aus ihrer zuletzt ultralockeren Geldpolitik eingeleitet. Nach der Bank of Korea und der Bank of England beschloss im März auch die US-amerikanische Federal Reserve, den Leitzins anzuheben. Zudem erwägt die Europäische Zentralbank diesen Schritt nun offiziell für die kommenden Monate.
Die Bank of Japan (BOJ) aber will bis auf Weiteres an ihrer Nullzinspolitik festhalten. Damit schwimmt die Zentralbank der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt einmal mehr gegen den Strom der anderen Notenbanken großer Wirtschaftsräume – seit nunmehr gut zwei Jahrzehnten. Das Land hat sich längst an billiges Geld gewöhnt: 1999 senkte die BOJ den Leitzins erstmals an die Nulllinie. Deutlich angehoben wurde der Leitzins seitdem nicht.

Zentralbanker Haruhiko Kuroda betonte diese Tage, dass der japanische Kontext ein anderer sei als jener der übrigen großen Volkswirtschaften. So hätten sich etwa die USA ökonomisch schneller von der Pandemie erholt als Japan, die steigende Inflation sei dort mit steigenden Löhnen einhergegangen, was in Japan kaum der Fall ist. Zudem ist die in Japan schon relativ hohe Konsumgüterpreisinflation mit 0,9 Prozent deutlich niedriger als anderswo auf der Welt.
Japans Wirtschaft in schwieriger Lage
Die Lage für die japanische Wirtschaft wird derzeit noch schwieriger, da inmitten von Leitzinserhöhungen anderer Wirtschaftsräume Anlagen in Yen relativ unattraktiver werden, was die japanische Währung zuletzt geschwächt hat. Mit einem Verhältnis von 123 Yen zu einem US-Dollar ist der Yen so billig wie seit rund fünf Jahren nicht mehr. Dabei gilt der Wachstumseffekt für exportorientierte Unternehmen, die über die letzten Jahre von einem schwachen Yen profitierten, als weitgehend erschöpft. Mittlerweile leidet eher die Binnenwirtschaft.
Nur hätte auch eine Zinserhöhung womöglich schwere Folgen. Insbesondere kleinere Betriebe, die nicht auf dem Weltmarkt konkurrieren, hängen von der billigen Refinanzierung ab und könnten bei höheren Zinsen womöglich nicht überleben. Der Anteil solcher „Zombie-Firmen“ wurde schon vor der Pandemie auf zwischen ein Fünftel und bis zu einem Drittel geschätzt. Durch die Unterstützungsprogramme rund um Covid-19 dürften es mehr geworden sein.
Nullzinspolitik in Japan seit vielen Jahren
Die Nullzinspolitik ist längst zu einer Art inoffiziellen Sozialpolitik geworden: Höhere Zinsen würden womöglich Unternehmenspleiten und damit viele neue Arbeitslose generieren. So ist die Bank of Japan auch mit Blick auf die soziale Stabilität vorsichtig mit Zinserhöhungen.
Derart kompliziert sind die Abwägungen, die Notenbanker und Politikerinnen dieser Tage treffen müssen, dass einmal mehr auf ein altes Thema zurückgegriffen wird, das man eigentlich längst ad acta gelegen hatte: Die Atomkraft. Würde man schnellstmöglich wieder mehr Atomkraftwerke in Betrieb nehmen, so die Überlegung mehrerer Politiker der japanischen Konservativen, könnte Japan seine Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten aus dem Ausland reduzieren. Das für Atomkraft aus dem Ausland einzukaufende Uran käme dabei vor allem aus Australien, mit dem Japan auch verteidigungspolitisch verbündet ist.
Japan diskutiert über Atomkraft
Die Hoffnung, die die Atomkraft auf sich vereint, sind billigere Preise für Strom. Dies wiederum würde auch den Effekt der wegen hoher Öl- und Gaspreise importierten Inflation aus dem Ausland abschwächen. Tatsächlich verfügt Japan prinzipiell über enorme Kapazitäten zur Produktion von Atomstrom. Vor gut zehn Jahren machte die Kernkraft noch ein Drittel des japanischen Energiemix aus, sollte perspektivisch auf 40 Prozent steigen. Heute sind es kaum fünf Prozent.
Als im März 2011 ein Erdbeben der Stärke neun vor der Nordostküste des Land gemessen wurde, die kurz darauf von einer rund 20 Meter hohen Welle überschwemmt wurde, havarierte auch das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. Hunderttausende verloren damals ihr Zuhause, bis heute können Zehntausende nicht in ihre alte Heimat zurückkehren, einige Dörfer bleiben evakuiert. Die Atomkraft erlitt einen gehörigen Imageschaden.
Mehrheit der Menschen Japans wieder für Atomkraft
Auch in Japan ging die Regierung auf Distanz. Die Atomkraft, die einst als Symbol des technischen Fortschritts galt, sahen viele Menschen fortan eher als Gefahr und Beispiel für ein korrumpiertes Geflecht zwischen Macht-eliten. Schließlich war der Gau in Fukushima auch darin begründet, dass Sicherheitsregeln einerseits kaum beherzigt, andererseits auch gelockert worden waren.
So war nach 2011 stets eine Mehrheit der Menschen in Japan gegen die weitere Nutzung von Atomkraft. Nur scheint sich der Wind nun zu drehen. Eine Befragung der Wirtschaftstageszeitung Nikkei (Nihon Keizai Shimbun) ergab Ende März, dass erstmals seit der Katastrophe von Fukushima eine Mehrheit von 54 Prozent für eine stärkere Nutzung der Atomkraft ist. Der bewegende Grund: Ungewissheit in Sachen bezahlbarer Energie. So hat die konservative Regierung, innerhalb derer ohnehin ein großer Teil die Atomkraft stärker nutzen möchte, nun offenbar eine Hürde weniger.
Dabei wäre ein schnelles Umsatteln auf Atomkraft auch in Japan kein leichter Schritt. Mit dem Gau von Fukushima wurden nicht nur die sechs Reaktoren des Kraftwerks Fukushima Daiichi vom Netz genommen. Zeitweise lief kein einziger der bis dato 54 Atomreaktoren im Land. Mittlerweile wird die Atomkraft wieder als Quelle zur Grundversorgung genutzt, aber nicht zuletzt durch strengere Sicherheitsregeln sind bis jetzt nur zehn Reaktoren wieder in Betrieb genommen worden. 16 weitere befinden sich im Genehmigungsprozess.
Würde man diese Verfahren beschleunigen, sähe sich die Politik einmal mehr in Erklärungsnot über die Frage, ob bei der Atomkraft wirklich Sicherheit eine große Rolle spielt. Diesmal auch noch mit Geld- und Währungspolitik im Hintergrund.