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Atomkraft in Großbritannien: Kaum bemerkter Rückbau

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Von: Joachim Wille

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Auf dem Gelände des Nuklearkomplexes Sellafield in Nordwestengland kam es immer wieder zu Störfällen.
Auf dem Gelände des Nuklearkomplexes Sellafield in Nordwestengland kam es immer wieder zu Störfällen. © John Birdsall/Imago

Die Regierung in London verspricht eine nukleare Renaissance durch kleine Atomkraftwerke, tatsächlich werden aber viel mehr Reaktoren stillgelegt als neu gebaut.

Großbritannien ist eines der Hoffnungsländer für die Atombranche. In Hinkley Point im Südwesten der Insel werden derzeit zwei neue große Reaktoren gebaut. Zudem unterstützt die Regierung in London die Entwicklung von Mini-AKW, die ab Mitte der 2030er Jahre Strom liefern sollen. Von der Öffentlichkeit viel weniger beachtet, läuft in dem Land aber ein Rückbau der Atomkraft, dessen Tempo aktuell dem deutschen AKW-Ausstieg ähnelt.

Die Briten waren, zusammen mit Russland und den USA, Vorreiter beim Bau von AKW. Der weltweit erste kommerzielle Reaktor zur Stromproduktion ging dort 1956 ans Netz. Seither sind in dem Land 45 AKW gebaut worden, von denen bereits 34 nach Ende ihrer Laufzeit oder wegen Störfällen abgeschaltet wurden. Das geht aus den Daten der Internationalen Atomenergie-Agentur hervor, die das Internationale Wirtschaftsforum Regenerative Energien (IWR) in Münster ausgewertet hat.

Atomkraftwerke in Großbritannien: Kein Zurück zu alter Größe

Allein seit Mitte 2021 haben die britischen Betreiber laut IWR vier Reaktoren mit einer Gesamtleistung von rund 2500 Megawatt (MW) abgeschaltet, zuletzt traf es vor einigen Tagen das AKW Hunterston-B2 nahe der schottischen Kleinstadt West Kilbride. Doch der Ausstieg geht bereits in diesem Jahr weiter. Bis Juli sollen zwei ältere AKW-Blöcke am Standort Hinkley Point mit zusammen 840 MW vom Netz gehen. Binnen eines Jahres wird die Atomstrom-Kapazität dann also um rund 3400 MW gesunken sein – eine ähnliche Größenordnung wie in Deutschland. Hier wurden zuletzt im Dezember drei Reaktoren mit zusammen 4200 MW abgeschaltet. Das Aus für die letzten drei Reaktoren kommt Ende 2022.

In Großbritannien wurde seit 1956 eine Atomkapazität von 15 700 MW aufgebaut, davon ist inzwischen mehr als die Hälfte, 7900 MW, wieder stillgelegt worden. Weitere Abschaltungen sind für 2024 und 2028 geplant. Bis 2030 fallen nach den bisherigen Plänen bis auf drei sämtliche Alt-AKW weg. Damit wird klar: Auch mit den beiden neuen Reaktorblöcken in Hinkley Point mit zusammen 3200 MW, die ab 2026 fertig sein sollen, wird die Atomkraft auf der Insel bei weitem nicht zur alten Größe zurückfinden.

Atomkraft: Umstrittene Neu-AKW in Großbritannien

Die lange umstrittene Bauentscheidung für die Neu-AKW in Hinkley-Point fiel 2014 erst, nachdem die britische Regierung dem Betreiber eine hohe Einspeisevergütung von umgerechnet rund elf Cent pro Kilowattstunde plus Inflationsausgleich über 35 Jahre garantiert hatte. Dieser Satz liegt etwa doppelt so hoch wie die Vergütungen, die es für Wind- und Solarenergie gibt. Gebaut werden die Reaktoren vom französischen Energieversorger EDF und dem chinesischen Staats-Atomkonzern CGN. Zwei weitere AKW-Neubauprojekte, in Wales und im Nordwesten Englands geplant, wurden 2019 abgesagt. Die japanischen Konzerne Toshiba und Hitachi, die sich hier engagiert hatten, gaben auf. Die Projekte wurden ihnen zu teuer. Die Entscheidung über ein weiteres AKW-Projekt der EDF mit zwei Reaktoren in der Grafschaft Suffolk nordwestlich von London wurde jüngst verschoben; sie soll nun bis zum Sommer fallen.

Hilferufe aus der Wirtschaft

Wegen hoher Energiepreise haben mehrere britische Wirtschaftsverbände Hilfe von der Regierung gefordert. In einem Brief riefen sie Finanzminister Rishi Sunak am Freitagabend auf, entschieden einzugreifen und die Wirtschaft zu stützen. „Andernfalls drohen Jahre mit höheren Rechnungen, steigender Inflation und einer weiteren Steigerungen der Geschäftskosten.“ Ohne staatliche Hilfe müssten Unternehmen die höheren Kosten an ihre Kund:innen weitergeben.

Großbritannien ist von den steigenden Energiepreisen besonders stark betroffen. Aktuellen Schätzungen der Branche zufolge drohen britischen Haushalten mehr als 50 Prozent höhere Rechnungen für Strom und Gas als bisher.

Als Gegenmittel schlagen Opposition und Verbraucherschützer:innen etwa vor, die Mehrwertsteuer auf Strom- und Gasrechnungen vorübergehend auszusetzen. dpa

Und die von London anvisierten Klein-AKW? Ob sie die Nuklear-Renaissance bringen können, steht derweil noch in den Sternen. Der britische Turbinenbauer und Rüstungskonzern Rolls-Royce hat die Regierung in London und Privatinvestoren zwar überzeugt, umgerechnet knapp eine halbe Milliarde Euro in die Entwicklung dieser Anlagen zu stecken. Kritiker:innen bezweifeln aber, dass sie den Atomstrom billiger als die klassischen Atomkraftwerke liefern können, auch wenn der Konzern das verspricht. Rolls Royce hat für die Mini-AKW (Fachbegriff: Small Modular Reactor, SRM), die Strom für je eine Million Haushalt liefern können sollen, umgerechnet über zwei Milliarden Euro veranschlagt. Stromkosten von etwa fünf Cent pro Kilowattstunde seien dann möglich, also weniger als die Hälfte des Hinkley Point-Tarifs. Auch in anderen Ländern wird an SRM-Konzepten gearbeitet, unter anderem von Unternehmen in den USA, China und Kanada. Bisher gibt es dort aber noch kein baureifes Design. Zuletzt haben die Regierungen von Frankreich und Belgien bekannt gegeben, Forschungsgelder in die SRM-Entwicklung stecken zu wollen. Paris ist mit einer Milliarde Euro dabei am spendabelsten. Fachleute glauben jedoch nicht, dass damit bereits ein baureifes Konzept entstehen kann.

Kommt die Renaissance der Atomenergie in Großbritannien?

IWR-Chef Norbert Allnoch geht nicht von einer grundsätzlichen Renaissance der Atomenergie in Großbritannien aus. „Atomstrom aus dem geplanten Kernkraftwerk Hinkley Point C ist in Großbritannien am Markt schon jetzt mehr als doppelt so teuer wie Strom aus Windenergie“, sagte er der FR. Diese Mehrkosten für die Stromerzeugung müssten letztendlich die britischen Stromverbraucher:innen tragen. Strom aus erneuerbaren Energien sei derzeit allemal wirtschaftlicher als Strom aus neuen AKW.

Unterdessen geht Großbritannien mit dem Ausbau der Offshore-Windkraft stark voran, die bisher bereits knapp 18 Prozent des im Land verbrauchten Stroms liefert. Vor der Küste Schottlands sollen gigantische Windparks entstehen. Die schottische Regierung hat in der vergangenen Woche eine Auktion für bis zu 25 000 Megawatt Leistung abgeschlossen. Es werden danach 17 Offshore-Windparks entstehen, die die bisher in britischen Gewässern insgesamt installierte Leistung von 10 000 MW mehr als verdreifachen werden.

Ziel der Regierung in London ist es, bis 2030 rund 40 000 MW zu erreichen, eine Marke, die nun voraussichtlich übertroffen wird. Zum Vergleich: In Deutschland geht der Ausbau der Offshore-Windkraft derzeit nur langsam voran. Die neue Ampel-Regierung hat das Ausbauziel für 2030 allerdings von 20 000 auf 30 000 MW angehoben.

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