Im Kern gespalten: Debatte um Atomenergie in der EU
Während Deutschland aus der Atomkraft aussteigt, wollen Länder wie Frankreich und die Niederlande Reaktoren bauen. Über den Weg zur Klimaneutralität in der EU droht ein Streit.
Frankfurt – Für die Atomgegner:innen ist es ein „Festtag“. Spätestens an Neujahr wird die Hälfte der sechs hierzulande noch am Netz befindlichen Atomkraftwerke stillgelegt sein. Die Reaktoren Brokdorf, Grohnde und Gundremmingen-C produzieren ihre letzten Kilowattstunden. „Wofür sich Hunderttausende über Jahrzehnte eingesetzt haben, wird an drei AKW-Standorten Wirklichkeit“, sagte Jochen Stay von der Anti-Atom-Organisation „ausgestrahlt“. Jetzt endlich zahle sich der lange Atem der Aktiven aus.
Tatsächlich kommt der deutsche Atomausstieg damit in die Endphase. Demnächst laufen nur noch drei der einstmals 19 Leistungsreaktoren, nämlich der bei Lingen im Emsland, Neckarwestheim-2 bei Heilbronn sowie Isar-2 in Bayern, und diese müssen bis Ende 2022 ebenfalls abgeschaltet werden. So steht es im Atomgesetz, das 2011 nach der Fukushima-Katastrophe vom Bundestag mit einer breiten Mehrheit auf Ausstieg gepolt wurde.
AKW-Ausstieg: Debatte um Atomenergie in der EU nimmt erneut Fahrt auf
Die kürzlich abgelöste Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hatte kurz zuvor, nachdem in Japan die Reaktoren des AKW Fukushima Daiichi explodiert waren, rasant den Kurs gewechselt. „Das war’s“, habe sie angesichts der verheerende TV-Bilder durchgehender Reaktoren gesagt, wird kolportiert. Die Folge: Der von ihrer schwarz-gelben Koalition erst im Jahr vorher rückgängig gemachte rot-grüne Atomausstieg wurde erneut bestätigt – mit sukzessiver Abschaltung der Reaktoren binnen elf Jahren. Anno 2010 lieferte die Kernspaltung noch fast 23 Prozent des hierzulande verbrauchten Stroms, 2022 werden es fünf bis sechs Prozent sein, 2023 null.
Nun, da es mit dem AKW-Ausstieg in Europas größter Volkswirtschaft tatsächlich ernst wird, nimmt in der EU die Debatte über die richtige Ausrichtung der Energiepolitik erneut Fahrt auf. Der Stromsektor muss in den nächsten ein bis zwei Jahrzehnten klimaneutral umgebaut werden. Braucht es dazu die Kernspaltung – ja oder nein? Während hierzulande die Stromkonzerne RWE, Eon und EnBW die Kernkraft abwickeln und sowohl Laufzeitverlängerungen als auch einen Neubau von Reaktoren ablehnen, bereiten andere Länder eine Renaissance der Technologie vor.
Belgien und die Niederlande wollen in Atomkraft investieren
Vor allem die Atommächte Frankreich (und Ex-EU-Mitglied Großbritannien) sind hier aktiv. Finnland und osteuropäische Staaten wie Polen, Ungarn und Tschechien stützen seit längerem diesen Kurs. Jüngst sind neue AKW-Befürworter im Westen hinzugekommen, und zwar ausgerechnet Nachbarländer von Aussteiger Deutschland. Die Niederlande wollen zwei neue Reaktoren bauen und die Laufzeit einzigen noch aktiven Reaktors, Borssele, verlängern. Belgien wiederum erklärte, zwar am beschlossenen Ausstieg bis 2025 festzuhalten, aber 100 Millionen Euro in die Entwicklung neuer Reaktortechnologien zu stecken.
In Europa stehen sich zunehmend zwei Energie-Philosophien gegenüber, die dasselbe Ziel – Energieversorgung ohne CO2 – mit unterschiedlichen Mitteln erreichen wollen. Derzeit betreiben noch 14 der 27 EU-Länder Atommeiler. Länder wie Deutschland, Österreich oder Spanien setzen für die Zukunft voll auf erneuerbare Energien, Stromspeicher und flexible Stromsysteme – andere Staaten wollen nicht auf die Kernkraft verzichten. Speerspitze der Atomfreunde ist Frankreich. Präsident Emmanuel Macron bezeichnet die Atomenergie als „Glücksfall“ für sein Land.
Atomkraft in der EU: Frankreich will sechs neue Reaktoren bauen
Die EU-Kernländer Deutschland und Frankreich stehen damit für zwei konträre Wege in die Energiezukunft. Frankreich ist das Land mit dem höchsten Atomstrom-Anteil weltweit. Seine 56 Reaktoren produzieren bis zu 70 Prozent des Strombedarfs im Land. Damit ist die Versorgung klimafreundlicher als in Deutschland, wo zwar bereits gut 40 Prozent Ökostrom im Netz sind, aber Kohle und Erdgas immer noch einen ebenso großen Anteil haben; zuletzt ist die Bedeutung der „Fossilen“ sogar wieder gestiegen.

Macron, der bei seinem Amtsantritt noch Sympathien für die deutsche Energiewende hatte, ist inzwischen voll auf Atomkurs gegangen. Er kündigte im November an, Frankreich werde sechs neue Reaktoren bauen, um die Stromversorgung zu sichern und im Land CO2-Neutralität bis 2050 zu erreichen. Außerdem will Paris eine Milliarde Euro in die Entwicklung von in Serie zu produzierenden „Mini-Reaktoren“ (Small Modular Reactors, kurz SRM) stecken, wie sie auch in Belgien diskutiert werden. Die SRM gelten als vierte AKW-Generation, sind bisher weltweit aber kaum über das Konzept-Stadium hinausgekommen. Ob Macrons SRM-Plan dass ändern wird, halten Fachleute für fraglich. Mit einer Milliarde ist er nicht sehr üppig ausgestattet.
Atomenergie in der EU: Fachleute verweisen auf hohe Kosten
Welcher der beiden Energie-pfade volkswirtschaftlich günstiger ist, ist umstritten – einmal abgesehen von der grundlegenden Frage, ob eine Gesellschaft bereit ist, die Super-GAU-Gefahr der herkömmlichen AKW-Technik und die Atommüll-Entsorgungsprobleme zu akzeptieren. Macron stützt sich auf eine Studie des französischen Netzbetreibers RTE vom Oktober. Darin heißt es, ein reines Ökostrom-System mit Wind-, Solar- und Wasserkraft komme deutlich teurer als ein gemischtes System aus Atomkraft und Erneuerbaren.
Andere Fachleute sehen solche Berechnungen kritisch. Sie verweisen auf die explodierten Kosten, die die aktuellen AKW-Bauprojekte in Frankreich, Finnland und Großbritannien verzeichneten, sowie die langen Bauzeiten für die neuen Reaktoren. Der Reaktor im finnischen Olkiluoto, errichtet vom französischen Framatome-Konzern (früher: Areva) ist hier das abschreckendste Beispiel. Das AKW vom Typ EPR kostete am Ende rund neun statt ursprünglich kalkulierter drei Milliarden Euro, bei einer um 13 Jahre verspäteten Fertigstellung. Die Stromproduktion soll nun Anfang 2022 beginnen.
Wind- und Solarenergie: Kosten für erneuerbare Energien haben sich stark reduziert
Generell gilt: Während die Kosten der Atomkraft in den vergangenen zwei Jahrzehnten deutlich gestiegen sind, fielen die von Wind- und Solarenergie rasant. „Atomenergie ist enorm teuer, erneuerbare Energien sind so viel billiger“, sagt zum Beispiel die renommierte Energieprofessorin Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW). Sie schätzt, dass Deutschland heute schon bei 80 Prozent Ökostrom liegen könnte, wenn die Merkel-Regierungen den Ausbau vor allem nach 2010 nicht bewusst abgebremst hätten.
Doch im Fall von Frankreich geht es nicht nur um einen reinen Kostenvergleich der beiden Systeme. Dort – wie auch in Großbritannien oder den USA – spielt darüber hinaus die Verknüpfung des zivilen mit dem militärischen Nuklearsektors eine Rolle. Die Kernkraft-Nutzung ist nötig, um die Atomwaffen-Programme durchführen zu können.
USA und Frankreich: Kernkraft für militärische Aktivitäten
Frankreich und die USA erklärten das sogar öffentlich, so der britische Professor für Wirtschafts- und Wissenschaftspolitik, Andrew Stirling. Er zitiert Berichte aus den USA. Sie zeigten, so Stirling, der an der Universität Sussex forscht: „Selbst wenn die Kernenergie doppelt so teuer wäre, wäre es für sie dennoch sinnvoll, Reaktoren zu bauen. Denn die helfen, das militärische Engagement aufrechtzuerhalten.“ Die vor allem von Frankreich forcierte Debatte innerhalb der EU darüber, ob die Atomkraft im Rahmen der sogenannten Taxonomie als nachhaltig einzustufen ist oder nicht, erscheint damit in einem anderen Licht.
In Deutschland jedenfalls gibt es derzeit keine ernsthafte Debatte, den Atomausstieg zu revidieren oder gar neue AKW zu bauen. Bei zwei der drei Parteien der Ampel-Regierung, SPD und Grünen, gehört der Atomausstieg seit Jahrzehnten zur politischen DNA und auch die FDP lehnt eine Revision ab. „Das wäre 2021 weder rentabel noch realistisch“, sagt Parteichef Christian Lindner. Es gebe weder Betreiber noch Standorte, und es sei unsinnig, einen beendeten gesellschaftlichen Großkonflikt neu zu eröffnen.
Die Herausforderung, ohne Atomkraft CO2-frei zu werden, ist freilich immens. Aus dem Wirtschafts- und Umweltministerium war zuletzt klar zu hören, die Stromversorgung werde auch nach dem Aus für die drei AKW zum Jahreswechsel zuverlässig bleiben. Superminister Robert Habeck räumte allerdings ein, die im Klimaschutzgesetz formulierten CO2-Ziele würden in den nächsten zwei Jahren wohl verfehlt. Es gelte, einen „drastischen Rückstand“ aufzuholen – „durch den massiven Ausbau der erneuerbaren Energien und die Beschleunigung des Netzausbaus“. (Joachim Wille)