Heiß auf Lehrlinge

Firmen würden gerne Azubis einstellen, das Lehrstellenangebot wächst. Die Zahl der unversorgten Bewerber allerdings auch. Wie kann das sein?
Wer am Bodensee eine Ausbildung machen möchte, der hat wahrhaftig die Qual der Wahl. „Es gibt alles, und alles in jeder Größe“, sagt Walter Nägele von der regionalen Arbeitsagentur. Vom Kleinstbetrieb bis zum Weltkonzern bieten Firmen Ausbildungsplätze an, im Tourismus, in der Metallindustrie, der Landwirtschaft, dem Einzelhandel, im Gesundheitswesen oder sogar in der Luft- und Raumfahrt.
„Unsere Unternehmen legen sehr viel Wert auf Ausbildung“, erzählt Nägele. Viele würden über ihren eigenen Fachkräftebedarf hinaus ausbilden. Und die Konditionen für Lehrlinge seien in der prosperierenden Region gut, besser als in manch anderer Gegend Deutschlands.
Am Bodensee gibt es mehr Lehrstellen als Bewerber. Im vergangenen Jahr blieben 888 Ausbildungsplätze unbesetzt, erzählt Nägele. Nur 110 junge Menschen bekamen keinen Ausbildungsplatz. Bei ihnen handele es sich um Bewerber, für die eine Ausbildung aufgrund persönlicher Probleme derzeit nicht das Richtige sei. Bei allen anderen – auch denjenigen mit den schlechteren Schulnoten – habe es mit einer Lehrstelle geklappt.

Das ist in Deutschland noch immer etwas Besonderes. Zwar hat der Ausbildungsmarkt vergangenes Jahr im Zehn-Jahres-Vergleich „viele Spitzenwerte hervorgebracht“, wie das Bundesinstitut für Berufsbildung in seiner Ausbildungsbilanz berichtet. Nach jahrelangem Rückgang ist das Lehrstellenangebot das zweite Jahr in Folge gewachsen, um 3,2 Prozent auf rund 574.200 Plätze. Die gute konjunkturelle Lage und die Furcht vor fehlenden Fachkräften motiviert Betriebe, wieder mehr auszubilden. Rein rechnerisch war laut Berufsbildungsinstitut die Chance junger Menschen, einen Lehrbetrieb zu finden, so gut wie seit Jahren nicht mehr. Auf 100 Bewerber kamen 97 Ausbildungsangebote.
In der Praxis sieht es allerdings oft weniger toll aus. In manchen Regionen gibt es deutlich mehr Bewerber als Lehrstellen, in anderen, wie am Bodensee, ist es genau anders herum. 45 von 154 Arbeitsagenturbezirken ringen mit solchen Problemen. Hinzu kommt, dass die Berufswünsche der Bewerber nicht immer zu den Lehrstellen passen. Wer technischer Kaufmann werden will, bewirbt sich eben nicht auf eine Ausbildung zum Fleischer. Und schließlich erfüllen die Bewerber auch nicht immer die Erwartungen der Arbeitgeber.
Was läuft am Bodensee anders, dass dort auch weniger gute Schüler einen Ausbildungsplatz bekommen? „Die Netzwerke greifen“, sagt Nägele. Arbeitsvermittler, Lehrmeister und Lehrer kennten sich. „Da ist es einfacher zu sagen: Probier den mal aus.“ Nicht alle Qualitäten eines Bewerbers stehen im Schulzeugnis, da kann eine persönliche Empfehlung Türen öffnen. Die Arbeitsagentur unterstützt Lehrbetriebe, die junge Menschen mit nicht so guten Schulabschlüssen einstellen. Sie bezahlt Stütz- und Fördermaßnahmen, damit der Einstieg ins Berufsleben gelingt. Mit der Assistierten Ausbildung ist ein noch junges bundesweites Instrument geschaffen worden, mit der Bildungsträger Lehrlinge und Lehrbetriebe unterstützen.

Mit einem Mangel an Bewerbern hat man es nicht nur im Süden zu tun, sondern auch im Norden, zum Beispiel in Celle, einer mit rund 70.000 Einwohnern mittelgroßen niedersächsischen Stadt, dem südlichen Tor zur Lüneburger Heide. Die Erdölbetriebe und ihre Zulieferer prägen das Wirtschaftsgeschehen vor Ort. Eine Ausbildung in einem dieser Unternehmen sei beliebt, sagt Benjamin Bauch von der lokalen Arbeitsagentur. Sie eröffne den jungen Menschen Aufstiegsmöglichkeiten, gute Bezahlung und internationale Karrieren. „Das ist eine unheimlich starke Konkurrenz für kleine Betriebe.“ Bäcker oder Fleischer hätten „extreme Schwierigkeiten“.
Im Trend lägen kaufmännische und technische Ausbildungen, und die am liebsten bei großen Firmen, sagt Bauch. Außerdem würden immer mehr Schulabsolventen an die Unis streben. Im vergangenen Jahr blieben in Celle 190 Ausbildungsplätze unbesetzt, während fast ebenso viele Bewerber, 184, keinen Lehrbetrieb gefunden haben.
Was Bauch beschreibt, sind bundesweite Trends: Hochschulbildung sowie kaufmännische und technische Berufe genießen gesellschaftlich hohes Ansehen und stehen auf den Wunschlisten junger Menschen oben. Zur Wahrheit gehört aber auch: In manchen Branchen müssen Arbeitszeiten, Löhne, Betriebsklima und Ausbildungsinhalte verbessert werden, wenn sie für junge Menschen wieder attraktiver werden sollen. Imagekampagnen alleine helfen da nicht.

Um Angebot und Nachfrage besser in Einklang zu bringen, setzen die Celler nicht nur auf ihr Berufsinformationszentrum und verstärkte theoretische Aufklärung der Schüler über Berufe und Ausbildungsmöglichkeiten, sondern auch auf Begegnungen mit der Realität. Im Februar veranstalten sie ein Speeddating für Gastronomie- und Hotelberufe. Einen Monat später bieten sie Jugendlichen die Möglichkeit, mal selbst Werkzeug in die Hand zu nehmen und gemeinsam mit Profis zu erfahren, „wie schön das Handwerk ist“, so Bauch.
Solche Anlässe böten Ausbildern und Bewerbern die Möglichkeit, ihren Horizont zu erweitern. „Auch Ausbilder müssen sich umorientieren, weil ihre Anspruchshaltung immer noch sehr hoch ist“, so Bauch. „Wenn man sich mal in die Augen schaut, ist eine Schulnote hinterher nicht mehr ganz so wichtig.“
Was weder im Süden noch im Norden gut funktioniert, ist Bewerber aus lehrstellenarmen Regionen anzulocken – eine Idee, die unter Arbeitsmarktexperten immer populärer wird. Sie plädieren für Semestertickets und Wohnheime, um die Mobilität zu fördern. Doch ob das reicht? Dass zugezogene Azubis am Bodensee „Einzelfälle“ seien, so Nägele, liege auch daran, dass große Betriebe keine Probleme hätten, Lehrstellen zu besetzen, und kleine Betriebe keine Möglichkeit, überregional Lehrlinge zu suchen. Sein Celler Kollege hat noch ein anderes Problem: „Celle ist keine Studentenstadt“, erzählt Bauch. „Wenn sie abends weggehen wollen, lassen sich die Locations an zwei Händen abzählen.“ Kein Umfeld, das junge Menschen anzieht.
So führen ganz praktische Probleme dazu, dass Deutschland sein Fachkräftepotenzial nicht ausschöpft. 78.600 junge Menschen fanden im vergangenen Jahr keinen Lehrbetrieb, während zugleich 57.700 Lehrstellen unbesetzt blieben, so das Bundesinstitut für Berufsbildung. Das waren drei Mal so viele wie noch im Jahr 2009.

Zu dieser Entwicklung trägt bei, dass die Zahl der Schulabgänger und damit der Bewerber sinkt. Die Unternehmen fangen deshalb an, andere Zielgruppen anzusprechen: männliche Abiturienten, die im Durchschnitt weniger gute Noten erzielen als junge Frauen und deshalb häufiger eine Berufsausbildung in Erwägung ziehen; männliche Studierende, da sie häufiger das Studium abbrechen als Frauen; und junge Migranten. Diese Strategie funktioniert. Die Zahl der Lehrverträge mit jungen Männern ist im vergangenen Jahr um 9900 auf 335.500 gestiegen, während die mit Frauen um 1800 auf 195.900 gesunken ist. Unter dem Strich steht ein Plus von 1,6 Prozent auf 531.400 Lehrverträge.
„Dennoch zeigt die hohe Zahl unbesetzter Ausbildungsplätze, dass bei der Sicherung des Fachkräftebedarfs keine Entwarnung angesagt ist“, sagt der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung, Friedrich Hubert Esser. Ausbildungsplätze zu besetzen, werde zunehmend zu einer Herausforderung für die Unternehmen. Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag beklagt, dass 17.000 Ausbildungsbetriebe noch nicht einmal mehr eine Bewerbung bekommen hätten. So blieb im vergangenen Jahr letztlich im Durchschnitt jeder zehnte Ausbildungsplatz offen. Vor zehn Jahren war es noch nur jeder dreißigste.
Bundesbildungsministerin Anja Karliczek will das Ausbildungsproblem nun mit einer Reform des Berufsbildungsgesetzes anpacken. Azubis sollen im ersten Ausbildungsjahr künftig bundesweit mindestens 504 Euro im Monat verdienen. Damit würde die Ministerin den Niedrig-löhnen den Garaus machen. Zudem will die CDU-Politikerin die rund 300 Ausbildungsberufe sprachlich näher an die akademische Bildung heranrücken. So soll es künftig die Qualifizierungsbezeichnungen Spezialist, Bachelor und Master geben.
Das Ziel ist klar: Das gesellschaftliche Image der Ausbildung aufwerten.