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Das "Nie wieder" prägt bis heute

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Roderich Reifenrath war von 1992 bis 2000 Chefredakteur der Frankfurter Rundschau und schon davor einer ihrer wichtigsten Leitartikler.
Roderich Reifenrath war von 1992 bis 2000 Chefredakteur der Frankfurter Rundschau und schon davor einer ihrer wichtigsten Leitartikler. © FR

Liberalität aus der historischen Erfahrung der Nazi-Diktatur - Anmerkungen zum inneren Kompass der Frankfurter Rundschau. Von Roderich Reifenrath, von 1992 bis 2000 Chefredakteur der FR.

Den 22. Juli 1969 wird niemand vergessen, der im Innenhof des Frankfurter Cantate-Saals dabei gewesen ist. Dort verprügelten "Ordner" der NPD, die wie Schlägertrupps aus den Tagen der Weimarer Republik kostümiert waren, unter den Augen der Kripo Menschen, die dem Aufruf einer "Bürgeraktion für Demokratie" gefolgt waren und gegen eine Veranstaltung der Rechtsradikalen demonstrieren wollten. Als einziger Prominenter aus der Bürgeraktion kam zu einem späteren Zeitpunkt der Verleger, Herausgeber und Chefredakteur der Frankfurter Rundschau, Karl Gerold, zum Tatort. Begleitet von hasserfüllten Zwischenrufen trat er in einer Versammlung nach den Gewaltakten den "Ewiggestrigen" entgegen.

Dieser entschiedene Auftritt des 1946 als Nummer sieben berufenen FR-Lizenzträgers dokumentiert auf herausragende Weise ein Grundverständnis der Zeitung von Beginn an. Im Widerspruch zu allen, die verschleiernd, verharmlosend, abwiegelnd, relativierend oder gar an Neuauflagen bastelnd übers Dritte Reich redeten und sich hervortaten, die Singularität des Holocausts zu leugnen, war die Redaktion sich immer einig. Die Frankfurter Rundschau, erste Tageszeitung nach 1945 in der damals von den Amerikanern besetzten Zone, lässt sich deshalb relativ leicht als ein von den Siegern angestoßener, konsequenter Versuch verstehen, dem befreiten Deutschland auch den publizistischen Begleittext zu liefern, um - die Parole lautete "Nie wieder" - nationalsozialistischen Neuauflagen jedweder Art den Boden zu entziehen. So unterschiedlich die Lizenzträger auch gewesen sind und so wenig sie letzten Endes zusammengepasst haben: Ihr passiver und aktiver Widerstand gegen das Hitler-Regime war verbürgt und zugleich die notwendige Klammer, um das Projekt Rundschau starten zu können.

Um dieses Grundverständnis gruppierte sich die Redaktion. Es wurde, generationenübergreifend, weitergereicht. Über die Jahre bewarben sich überwiegend Männer und Frauen in der Großen Eschenheimer Straße, denen klar war, wo das Blatt in wichtigen innen- und außenpolitischen Fragen stand, welchen Stellenwert vor allem die konsequente Absage an den politisch-militärischen Irrsinn der Jahre 1933-1945 besaß. Da wirkte es wie selbstverständlich, dass der Pool der Auslandskorrespondenten erst einmal stark besetzt war mit emigrierten jüdischen Journalisten oder solchen, die mit jüdischen Frauen verheiratet waren und die das Deutschland der Nazis rechtzeitig verlassen konnten: Heinz Pol etwa und Herbert Freeden, Hermann Bleich, Hermann P. Gebhard, Julius Keim oder Karl Wehner.

Bis zum heutigen Tag wird den Themen große Beachtung geschenkt, die direkt oder indirekt mit dieser Epoche der Unterdrückung und Gewalt zu tun haben. Je reifer die Republik wurde, desto deutlicher schwanden zwar die Befürchtungen, der braune Schoß könne wieder so fruchtbar werden, dass er die Welt noch einmal bedrohte. Wachsamkeit gehörte dennoch zum publizistischen Credo. Zu erinnern ist an fünf Reportagen 1951, die die Politiker zwangen, einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss einzusetzen. Unter dem Titel "Ihr naht Euch wieder..." veröffentlichte die FR eine Liste mit Namen von Beamten des Auswärtigen Amtes mit nationalsozialistischer Vergangenheit. Und typisch war eine Reportagen-Serie 1958 über Organisationen, in denen Ross und Reiter aus dem rechtsradikalen Fundus genannt wurden mit Signets wie Wiking-Jugend, Schiller-Jugend, Freie Soziale Volkspartei, Jungdeutsche Freischar, Deutschwandervogel, Jugendchor Scharnhorst, Deutscher Block oder Deutsche Soziale Bewegung.

Als weiterer Beleg mag die engagierte Beachtung der - Geschichtsschreibung ergänzenden - Prozesse gegen die Henker aus den Vernichtungslagern der SS in Auschwitz, Majdanek oder Treblinka dienen. Und der eindeutige Kommentar zählte dazu, wenn die Justiz, deren Beteiligung am Unrechtsregime nahezu ungesühnt geblieben ist, allzu nachsichtig über KZ-Wächter urteilte oder Ermittlungsverfahren endlos hinzog. Aus dubiosen Ecken erreichten das Haus dann schon mal Briefe mit der scheinheilig-kritischen Anmerkung, die FR missachte bei NS-Tätern penetrant das bei Alltagskriminellen von den Linksliberalen favorisierte Strafziel der Resozialisierung. Wenn es denn überhaupt Verbrecher gebe, die nicht mehr rückfallgefährdet und längst wieder "eingegliedert" seien, dann doch wohl die einstigen Schergen Hitlers und Himmlers.

Im Vergleich zu heute bezogen die Medien in den Jahren des Aufbaus und der Umorientierung eines traumatisierten Volkes meist deutlichere Positionen. Leitartikler kamen weniger geschmeidig daher. Ihr Ton konnte gelegentlich grob oder pathetisch sein. Distanz schaffende Ironie jedenfalls, jetzt quer durch viele Redaktionsstuben an Stelle eindeutiger, moralisch grundierter Haltungen favorisiert, gehörte nur ausnahmsweise zum Stilmittel der einstigen medialen Wortführer. Aufbrausende Interventionen, wie sie sich Karl Gerold Mitte der Sechziger angesichts der tödlichen Serie abstürzender Starfighter erlaubte, wären im Zeitalter der Globalisierung undenkbar. "Mörder von oben" und "Steh auf, mein Volk!" - hinter solchen Schlagzeilen verbarg sich jedoch mehr als das Entsetzen über den sinnlosen Tod junger Piloten der Bundeswehr.

Da gab es parallel zum Chef bei den meisten FR-Redakteuren Distanz zum Militärischen. Unter denen, die den grauen Rock der Wehrmacht hatten tragen müssen, überwog das Gefühl, vom System betrogen und missbraucht worden zu sein. Jüngere sympathisierten mit dem Pazifismus. Und es aktivierte sich bei allen - gelegentlich reflexartig - ein tief sitzendes Misstrauen, betrat ein Mann wie Franz Josef Strauß die Arena. Dieser produzierte als Verteidigungsminister (1956-1962) Gegnerschaften am laufenden Band, weil es ihn verdächtig nach Atomwaffen gelüstete. Er bekam bei der Rundschau nie ein Bein auf die Erde, weniger, weil er immer wieder in Korruptionsaffären verstrickt war, sondern weil die schwarzen Löcher in seinem Demokratieverständnis zur Gegenrede provozierten. War er es doch, der die Spiegel-Affäre zu verantworten hatte, jenen Fundamentalangriff auf die im Grundgesetz garantierte Pressefreiheit.

Die Berichterstattung darüber belegte in der FR zeitweise 65 Prozent des politischen Teils - verstanden als Verteidigung des Rechtsstaats. Für ihn sprang die Zeitung, drohte Gefahr, immer wieder in die Bresche.

Ohne Unterlass hatte der CSU-Vorsitzende über die ganze Periode seines Wirkens den rechten politischen Rand bedient, obwohl er wirklich kein verkappter Nazi war. Das Verhältnis zwischen Strauß und den Intellektuellen war gezeichnet von Misstrauen, tief sitzend und gegenseitig. Gegen seinen häufig skrupellosen Machtinstinkt setzten argumentierende Gegner das Postulat des behutsamen Umgangs mit Geist und Buchstaben der Verfassung. Dahinter verbargen sich Sorgen um die Stabilität des zweiten Anlaufs der Deutschen mit der Demokratie, während sich Vertreter banaler Erklärungsmuster mit der Reduktion aufs Sprechblasen-Schema rechts-links begnügten. Das Aufbegehren gegen Strauß: In der Rundschau war es vom Grunde her ein heftiger Reflex auf die Vergangenheit. Immer wieder landete, wenn er und andere sich unrühmlich in Szene setzten, die Fantasie bei den Schwachstellen der Weimarer Republik - der Demokratie ohne Demokraten.

Wachhalten der Erinnerung an die verheerende deutsche Geschichte - das zieht sich wie ein roter Faden durch die Entwicklung der Zeitung. Es war auch ihr innerer Kompass. Das Ende der Ära Adenauer 1963, die Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit Israel 1965, die Kampagnen gegen die Notstandsgesetze ab 1965, das Ende der Hallstein-Doktrin 1967, das von den politischen Akteuren gelegentlich als historisch gepriesene Bündnis zwischen Freien Demokraten und Sozialdemokraten 1969, die Entspannungspolitik Willy Brandts und Walter Scheels mit Moskau und Warschau, die Normalisierung des Umgangs mit der DDR, Friedensdemonstrationen, die nicht erwartete Überwindung der Teilung Deutschlands 1989, die Verlagerung des Machtzentrums von Bonn nach Berlin: Das bündelte sich in den Köpfen der Redaktion meist schnell auch zu Ereignissen mit Erinnerungen an die unselige Vergangenheit.

Wenn es um die geteilte Nation ging, meldeten sich die Leute, die lieber von der "Zone" redeten und denen der "Kalte Krieg" die dauerhaft-angemessene Antwort auf den Kommunismus war. Selten frei von aggressiv-nationalen Untertönen und ohne weitere Recherche flink bei der Hand war solchen Zeitgenossen der Verdacht, die Zeitung sei ideologisch ein unsicherer Kantonist und darüber hinaus ein "Handlanger Moskaus". In ihrem Bemühen, für eine wirklichkeitsbezogene Entschärfung des Ost-West-Konflikts zu fechten, stand die FR publizistisch lange ziemlich einsam in der Presselandschaft.

Zustimmung für Programme von Parteien, Regierungen oder außerparlamentarischen Gruppen: Was der Rundschau von außen gelegentlich als Verbeugung vor linken Deutungen der gesellschaftlichen Realität angekreidet wurde, war in Kommentaren und Analysen selten ideologisch aufgeschäumt, sondern orientierte sich stark an den Maßstäben der Aufklärung. Unterstützt worden sind weder Positionen vom Kaliber der "Diktatur des Proletariats", noch Anläufe der Jusos, die Bürger vom angeblich "staatsmonopolistischen Kapitalismus" (Stamokap) zu befreien. Wurden extrem aufleuchtende Theorien in der Redaktion diskutiert (und es ist viel diskutiert worden), landeten sie nie auf der Agenda. Parlamentarische Demokratie und soziale Marktwirtschaft: In diesem Rahmen bewegte sich auch diese Zeitung, allerdings kritischer, prinzipieller und reformfreudiger als in solchen Verlagen, in denen kleinste Abweichungen vom konservativen Ideal bereits Ängste vor dem Untergang des Abendlandes heraufbeschworen.

Wer die Regeln des Rechtsstaats einhielt, wer unter den Bürgerrechts-Liberalen die soziale Seite der Menschen ernst nahm, wer die beiden Worte "Eigentum verpflichtet" in Artikel 14 des Grundgesetzes oder die Sozialstaatsklausel dort in Artikel 20 nicht als unverbindliche Worthülse abtat, wem Begriffe wie Humanität oder Gerechtigkeit auch im Alltagsgeschäft nicht zur leeren Floskel verdorrten, dem öffneten sich die Spalten der FR.

Als die Studenten 1968 begannen, die Straße zum außerparlamentarischen Forum umzufunktionieren, war die Rundschau wahrscheinlich die erste Zeitung im Land, die verstanden hatte, was da symbolisch in Wahrheit geschah. Im Protest gegen den Vietnamkrieg, im Rebellieren gegen eine Vätergeneration, die das Dritte Reich verdrängt hatte, im Zorn über die Reformunwilligkeit der Republik, über autoritäre Strukturen an den Hochschulen und Bildungsnotstände hatte die FR viel Verständnis für die jungen Leute. Als die Straßen großer Städte in Schlachtfelder verwandelt wurden und feinsinnige Unterscheidungen zwischen Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen Sachen kursierten, riss der Faden ab, was zur Folge hatte, dass gelegentlich auch das Rundschauhaus die Wut von draußen zu spüren bekam. Und als die Grünen die Parteienlandschaft zu beleben anfingen, gab's unter den leitenden Redakteuren Bereitschaft zur politischen Akzeptanz frühestens dann, als das Gewaltmonopol des Staates bei ihnen nicht mehr zur Disposition stand. Hier und da und immer wieder geriet zuvor den Kommentatoren die Weimarer Republik mahnend ins Vokabular.

Die FR als Zentralorgan der Revolte, die Zeitung als verlängerter Arm einer Partei, das Blatt als Matrix für jede Minderheit, nur weil sie Minderheit ist - das war ein Missverständnis, das manchmal Leser umnebelte und in Ausnahmen Mitglieder der Redaktion. Aber anders als in anderen Häusern gab es nie den Richtungsstreit mit der Wirkung einer Implosion. Das hatte einerseits viel mit Karl Gerold zu tun, dessen patriarchalische Neigungen durch einen Führungsstil mit langer Leine nur bedingt zur Wirkung kamen. Er war zugleich von einem ungebändigten Bedürfnis nach Unabhängigkeit und Freiheit beseelt. Jeden politischen Einwirkungsversuch - woher auch immer - wehrte er ohne Rücksicht auf Nachteile ab. Und das war andererseits einem ausgleichenden Temperament wie Karl-Hermann Flach zu danken, der in zehn Jahren als stellvertretender Chefredakteur Wogen zu glätten und der sozialliberalen Option Inhalt und Form zu geben verstand. Sie wurde zur Leitidee der Frankfurter Rundschau, weil sie mehr war als eine Parteien-Konstellation, denkbar auch ohne SPD und FDP in ihrer schwankenden Programmatik. Sie blieb eine gesellschaftliche Vision ohne Übersteigerungen, machbar eben.

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