Recep Tayyip Erdoğan: Redner, Reformer und religiöser Eiferer
Seit dem Jahr 2003 verändert Recep Tayyip Erdoğan die Türkei. Die Geschichte eines Mannes, der es aus ärmlichen Verhältnissen an die Spitze eines Staates schaffte.
Ankara – Es waren Worte der Versöhnung, die Recep Tayyip Erdoğan bei seiner Wahl zum Präsidenten der Türkei im Jahr 2014 wählte. „Lasst uns heute alle gemeinsam einen gesellschaftlichen Aussöhnungsprozess beginnen“, rief er bei seiner Siegesrede vom Balkon der Zentrale seiner Partei. „Lasst uns die alten Auseinandersetzungen in der alten Türkei zurücklassen.“ Erdogan wollte vor allem eines: das Staatsoberhaupt von 77 Millionen Türken sein. Freunde heben die Kämpfernatur des hochgewachsenen Mannes hervor. Der Präsident spalte, denke in schwarz-weiß-Kategorien, kenne keine Ambivalenz und ließe alle spüren, wohin er sie verorte. Doch wer ist der Mann, der polarisiert wie kaum ein anderer türkischer Präsident vor ihm?
Name | Recep Tayyip Erdoğan |
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Geboren | 26. Februar 1954 |
Partei | Adalet ve Kalkınma Partisi (AKP) |
Recep Tayyip Erdoğan: Der Macher aus ärmlichen Verhältnissen
Der Aufstieg von Recep Tayyip Erdoğan gleicht etwa der Vorstellung des „American Dream“ – einem „Turkish Dream“. Als Sohn eines armen Seemannes wuchs Recep Tayyip Erdoğan im Viertel Kasimpasa in Istanbul auf. Das Milieu, in dem der spätere Präsident aufwuchs, war durch islamische Frömmigkeit geprägt. Der junge Erdoğan versuchte, das Familieneinkommen durch den Verkauf von Wasser, Sesamkringeln und Süßigkeiten aufzubessern. Es gab nichts für ihn, das er sich nicht selbst verdienen musste. „Ein Kasımpaşalı zu sein bedeutet, deutlich und männlich zu sein“, wird er später sagen.
Erdoğan besuchte die Schule, stellte sich vor, später einmal Prediger oder Fußballer zu werden und studierte anschließend Wirtschaftswissenschaften. Nach einer Mitgliedschaft in der neu gegründeten „Nationalen Heilspartei (MSP)“ in seiner Jugend betrat er im Jahr 1994 eine größere politische Bühne: Erdoğan wurde Oberbürgermeister von Istanbul. Und der Macher tat, was er am besten konnte. Probleme lösen. Unter Erdoğan wurde die Müllabfuhr in Istanbul neu organisiert, frische Grünflächen errichtet und die Korruption bekämpft. Trotzdem waren in seinem neuen Amt deutliche Einflüsse eines konservativen Islam zu spüren. Sei es seine Rhetorik, das Verbot der Abbildung leicht bekleideter Frauen oder die Untersagung von Alkohol in städtischen Betrieben.
Wegen Volksverhetzung: Erdoğan wird inhaftiert
Im Jahr 1999 wurde Erdoğan wegen Volksverhetzung für einige Monate inhaftiert. Er soll 1997 während einer Demonstration vier Zeilen aus einem Gedicht des islamistischen Dichters Ziya Gokalp vorgelsen haben. Die Zeilen lauteten: „Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten“. Daraufhin wurde ihm weitere politische Betätigung untersagt. Auch seine einstige Partei MSP sowie deren Nachfolgerpartei Refah Partisi wurden in den 1990er-Jahren verboten.
Aus den Ruinen dieser Parteien gründete Recep Tayyip Erdoğan zusammen mit gemäßigten Kräften die islamisch-konservative AKP (Adalet ve Kalkınma Partisi, dt.: Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung) und konnte mit ihr im November 2002 einen beeindruckenden Wahlsieg feiern. 2003 wurde Erdoğan, zunächst verhindert durch das Politikverbot, Ministerpräsident der Türkei. Als „Mann aus dem Volk“ bildete Erdoğan einen Kontrast zu den alten kemalistischen und militärischen Eliten, den „weißen Türken“. Die damaligen kemalistischen Reformen hatten Religion und Religiosität weitgehend aus dem öffentlichen Leben verbannt. So wäre es in der säkularen Türkei undenkbar gewesen, dass Frauen führender Politiker oder Abgeordnete ein Kopftuch getragen hätten. Das änderte sich unter Erdoğan. Die Rückkehr des Islams stieß vor allem bei der türkischen Bevölkerung auf große Zustimmung. Viele Türken fühlten sich in ihrer Kultur erstmals von einem Staatsoberhaupt anerkannt.
Recep Tayyip Erdoğan: „Der Mann aus dem Volk“
Auch außenpolitisch wurde Erdoğan als Ministerpräsident zunächst gelobt. Ein streng konservativer Muslim, der die Türkei zum Beitrittskandidaten für die EU machte. Auch der Wirtschaftsboom verstärkte das außenpolitische Image der Türkei. Außerdem kam Erdoğan einer Lösung des Konflikts mit der kurdischen Bevölkerung innerhalb der Türkei näher, als jemals ein Regierungschef vor ihm. Allerdings wandte er sich wieder vom Westen ab, als die Beitrittsverhandlungen keinen raschen Erfolg versprachen.
Am 10. August 2014 wurde Ministerpräsident Erdoğan zum Präsidenten der Türkei gewählt. Es war das erste Mal, dass die Türken ihren Präsidenten direkt wählen konnten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte der Staatschef vor allem repräsentative Aufgaben. Erdoğan strebte jedoch einen Wechsel zu einem Präsidialsystem mit größeren Machtbefugnissen für das Staatsoberhaupt an.
Erdoğan wegen Massenverhaftungen in der Kritik
Im Dezember 2014 veranlasste Erdoğan eine Verhaftungswelle von regierungskritischen Journalisten. Die Verhaftungen führten zu internationalen Protesten, sowohl durch Organisationen als auch durch Politiker anderer Länder. Laut der Europäischen Union sei die Verhaftungswelle „unvereinbar mit der Freiheit der Medien“. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ beschrieb die Lage in der Türkei im Jahr 2016 mit den Worten: „Die Türkei gehört zu den Ländern mit den meisten inhaftierten Journalisten weltweit. Nach dem Putschversuch im Juli 2016 wurden weit über 100 Journalisten verhaftet, rund 150 Medien geschlossen und mehr als 700 Presseausweise annulliert. Kritische Journalisten stehen unter Generalverdacht.
Die wenigen noch verbliebenen unabhängigen Medien arbeiten in ständiger Angst. Wiederholt wurde ausländischen Journalisten die Akkreditierung verweigert oder die Einreise verwehrt. Daneben ersticken die politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen vieler wichtiger Medienbesitzer eine kritische Berichterstattung im Keim.“ Ein berühmtes Beispiel ist der deutsch-türkische Journalist Deniz Yücel, der sich vom 27. Februar 2017 bis zum 16. Februar 2018 wegen angeblicher „Terrorpropaganda“ in türkischer Untersuchungshaft befand.
Der türkische Präsident und die Flüchtlingskrise
Im Jahr 2015 traf die europäische Flüchtlingskrise auch die Türkei. Bereits in den Jahren 2012-2014 waren über eine Million Syrer in die Türkei geflohen. In Folge der Krise schlossen die EU und die Türkei unter Recep Tayyip Erdoğan ein Abkommen, um die Zahl der Geflüchteten aus der Türkei zu reduzieren. Im Jahr 2016 drohte Erdoğan damit, Geflüchtete wieder nach Europa reisen zu lassen. 2020 wurde die Grenze für Geflüchtete nach Bulgarien und Griechenland geöffnet, weshalb die Türkei das Abkommen brach. Erdoğan selbst kommentierte die Grenzöffnung mit den Worten: „Wir haben die Tore geöffnet. Wir werden die Tore auch in Zukunft nicht schließen. Wir müssen nicht so viele Flüchtlinge durchfüttern. Europa stehe der Türkei in Syrien nicht bei, und auch nicht wirklich bei der Versorgung der fast vier Millionen Syrer in seinem Land.“
Die „Schmähkritik“ über Recep Tayyip Erdoğan – Die Causa Böhmermann
Die deutsche Öffentlichkeit verbindet mit Recep Tayyip Erdoğan unter anderem den als Böhmermann-Affäre bezeichneten Fernsehbeitrag des Satirikers Jan Böhmermann und die damit verbundenen Reaktionen. Jan Böhmermann trug in seiner Sendung „Neo Magazin Royale“ eine sogenannte „Schmähkritik“ vor, mit dem Hinweis, dass es sich dabei um ein Beispiel handele, wie eine in Deutschland verbotene „Schmähkritik“ aussehen könne.
Der türkische Präsident wird in dem Gedicht verunglimpft, woraufhin die Regierung der Türkei, einschließlich Erdoğan , Strafanzeige gegen Jan Böhmermann erstattete und einen Prozess verlangte. Dabei bezog man sich auf den Paragrafen § 103 des Strafgesetzbuches (Beleidigung von Organen und Vertretern ausländischer Staaten). Deutsche Juristen und Politiker forderten daraufhin die Abschaffung des Paragrafen, was am 01. Juni 2017 geschah. Das Ermittlungsverfahren gegen Jan Böhmermann wurde mangels Beweisen einer strafbaren Handlung eingestellt.
Putsch gegen Recep Tayyip Erdoğan – Umfassende Reformen in der Türkei
Im Juli 2016 kam es zu einem Putschversuch seitens des Militärs gegen die türkische Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan . In Ankara und Istanbul kam es zu schweren Zusammenstößen zwischen Zivilbevölkerung und Militär. Nach offiziellen Angaben soll es 249 Todesopfer gegeben haben. Da der Putschversuch jedoch keinen Rückhalt in der türkischen Bevölkerung hatte, scheiterte er bereits am nächsten Tag. Erdoğan bezeichnete ihn noch in derselben Nacht als „Segen Gottes“ und er solle als Anlass dafür dienen, die Streitkräfte, „die vollkommen rein sein müssen“, zu säubern. Nach dem versuchten Putsch beschloss die Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan einen Ausnahmezustand, der bis ins Jahr 2017 immer wieder verlängert wurde. Während dieses Ausnahmezustands wurden über 80.000 Personen aus dem Staatsdienst entlassen, sowie 1.400 Oppositionäre der Partei HDP inhaftiert.
Der Putschversuch bildete auch die Grundlage für die 2017 angestrebte Verfassungsänderung, die die Regierungsform von einem Parlamentischen Regierungssystem hin zu einem Präsidialsystem ändern sollte. Mit 51,41 % Zustimmung wurde das Referendum durchgesetzt. Damit konnte Erdoğan dem Amt des Präsidenten mehr Vollmachten verleihen. Durch das Referendum wurden die Exekutivbefugnisse in der Hand des Präsidenten gebündelt und damit sein Einfluss auf die Justiz erweitert.
Seit dem Jahr 2020 steht auch die sogenannte Erdgas-Krise in Verbindung mit Recep Tayyip Erdoğan. Türkische Erdgaserkundungen vor griechischen Inseln im östlichen Mittelmeer sorgten in Griechenland für Kritik. Das Forschungsschiff „Oruc Reis“ suchte, begleitet von türkischen Kriegsschiffen, nach Gas. Ankara argumentierte, dass das Gebiet zum Festlandsockel der Türkei gehöre. Der Türkei sind aber die griechischen Inseln Rhodos und Kastelorizo vorgelagert, weshalb Griechenland das Seegebiet für sich beansprucht. (Marvin Ziegele)