Kinder wollen zeigen, was sie können

Es ist höchste Zeit, Voraussetzungen für ein freudvolles Lernen zu schaffen.
Am Montag werden Hessens Schule für einen Großteil der Kinder wieder geöffnet und es scheint, als seien sie zu einem Sehnsuchtsort mutiert. Zwei Monate Lockdown haben den Blick frei gemacht für die positiven Seiten des täglichen Lernens in der Schule. Das ist eine Chance, die wir Pädagog*innen uns nicht entgehen lassen dürfen. Deshalb ist es jetzt wichtig, auf die pädagogischen Voraussetzungen des freudvollen und erfolgreichen Lernens bei Kindern zu blicken.
Ein Paradigmenwechsel im Lehr- und Lernverständnis unserer Schulen ist notwendig. Denn Kinder, die ihr gesamtes Schulleben lang nur gelernt haben, dem Druck und den Vorgaben ihrer Lehrer*innen und Eltern (mehr oder weniger) zu folgen, können nicht auf einmal zu Hause ihr Lernen alleine gestalten. Der Vogel, der sein Leben lang im Käfig saß, wird bei offener Tür nicht wegfliegen! Und deshalb sahen sich Tausende Eltern plötzlich mit einem neuen Beruf konfrontiert. Sie wurden über Nacht von ihren Kindern und deren Lehrer*innen zu Hilfslehrer*innen ernannt.
Lehrkräfte transportierten Materialberge in die Kinderzimmer, Eltern wachten darüber, dass die Lücke im Sachtext genau richtig ausgefüllt oder die Seite im Arbeitsheft sorgfältig bearbeitet wurde. Und viele Eltern stöhnten unter dieser Belastung.
Zugrunde liegt die irrige Annahme, dass Eltern und Lehrerkräfte die Schüler*innen zu dem von uns definierten „Glück“ schieben müssen, das veraltete Lernmodell vom „Nürnberger Trichter“ hat wieder Hochkonjunktur. Dabei ist allenthalben zu sehen, dass Kinder lernen wollen, wenn auch nicht immer das, was uns Erwachsenen gefällt. Alle Kinder haben bereits ihre Erfolgsgeschichte, das beweist z.B. die Tatsache, dass sie laufen oder sprechen können. Lernen ist der Motor von uns Menschen und setzt immer bei uns selber an. Die Kunst der Pädagogik muss es sein, den Kindern bei ihrem Weg zu helfen und ihn zu erleichtern.
Kind ins Zentrum stellen
Hierzu müssen Schulen das Kind ins Zentrum ihrer Bemühungen stellen und es ernsthaft zum Subjekt seines Lernprozesses machen. Von Schulen, die das schon lange tun, höre ich jetzt immer wieder den Satz: „Unsere Kinder sind es ja gewohnt, selbstständig zu arbeiten. Das hat uns geholfen.“ Dieses „Gewohntsein“ hat ein jahreslanges Einüben von Routinen zur Grundlage, denn Freiheit braucht Struktur.
Ich möchte exemplarisch an einem Strukturelement der IGS Süd in Frankfurt, dem „Fachbüro“ aufzeigen, wie Schule diesen Schritt gehen kann.
Dort entscheiden alle Kinder jeden Morgen, ob sie heute Mathe, Englisch oder Deutsch im ersten Block machen (Fachbüro). Dann arbeitet jedes Kind an seinem eigenen Thema mittels eines von uns entwickelten Lernbausteins (z.B. „Bruchrechnen“ oder „Märchen“), ein Selbstlernmaterial. Die Lehrer*innen begleiten die Kinder auf ihrem Lernweg. Dies geschieht in einem klar definierten Rahmen und am Ende reflektiert jedes Kind im eigenen „Logbuch“, was es gelernt hat und wie es weitergehen soll.

Das Kind entscheidet selbst, wann es den Baustein abschließt und sich zum persönlichen Test anmeldet. Das klassische Überprüfen, ob das definierte Ziel erreicht ist (=Klassenarbeit) dreht sich um: aus Testen wird Zeigen. Und wir erleben: Kinder wollen zeigen, was sie können und das in ihrem eigenen Tempo. Konsequent gibt es hierfür persönliche Zertifikate als differenzierte Rückmeldung anstelle von Noten.
Dies alles führt dazu, dass die Kinder in der Schule täglich ihre Selbstwirksamkeit spüren und sich als handelnde Subjekte erleben. Kinder, die gelernt haben, so zu arbeiten, und für die auf dem „Schulportal“ alle Bausteine und die ergänzenden Materialien auch digital zur Verfügung stehen, können ihr Lernen zu Hause einfach fortsetzen.
Menschlicher Kontakt fehlte
Natürlich gab es auch für unsere Kinder in der Homeschooling-Zeit Probleme: Dass fast alle Frankfurter Schüler*innen für ihr Arbeiten in der Schule die Kompetenzen im Umgang mit elektronischen Geräten nicht einüben können, liegt zum erheblichen Teil daran, dass es in Frankfurt – anders als in den umliegenden Landkreisen – kein WLAN-Netz gibt. Ein Ergebnis der zerstrittenen Stadtpolitik.
Dies mag machtpolitisch nachvollziehbar sein, für die zukunftsgerichtete Arbeit an den Schulen ist es unsäglich! Die Erweiterung unserer Arbeit durch das „Werkzeug“ Computer ist eine unabdingbare Komponente, um beim Lernen das einzelne Kind ins Zentrum zu stellen. Die nötigen Routinen brauchen Zeit, sich zu bilden, und dürfen nicht vom Geldbeutel bzw. der Kompetenz der Eltern abhängig sein.
Andererseits fehlte natürlich in der Corona-Zeit die Beziehungsebene, der menschliche Kontakt in der Schule. Den kann kein digital verfügbares Material, keine Videokonferenz und kein Telefonat ersetzen. Dafür braucht es im Lockdown mehr noch als sonst die Eltern! Nicht als Hilfslehrkräfte, sondern als interessierte, teilnehmende und liebevolle Partner. Lernen können die Kinder alleine.