„Mal einer, der nicht von der CSU ist“ - Al-Wazir teilt gegen Verkehrsminister Scheuer aus

Hessens Vize-Regierungschef Al-Wazir spricht im FR-Interview über die schwarz-grüne Option und „eine neue Politik nach 16 Jahren Merkel“.
Seit 2014 regieren CDU und Grüne, die einstigen Widersacher, zusammen in Hessen. Der stellvertretende Ministerpräsident Tarek Al-Wazir (Grüne) erklärt, was am Bündnis seiner Partei mit der CDU von Ministerpräsident Volker Bouffier nach der Bundestagswahl 2021 als Vorbild für Berlin dienen könnte.
Herr Al-Wazir, ist eine Koalition mit der CDU ein Weichspülprogramm für die Grünen?
Nein. Wir koalieren in zehn Bundesländern und in unterschiedlichsten Koalitionen. Und die Bürgerinnen und Bürger können sich überall darauf verlassen, dass wir grüne Inhalte durchsetzen für Klimaschutz, Agrar-, Verkehrs- und Energiewende und sozialen Zusammenhalt.
In einem Fernsehinterview zu Afghanistan haben Sie gefordert, die Nachbarländer zu stärken, während Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock mindestens 50 000 Flüchtlinge in Deutschland aufnehmen will. Ist das nicht weichgespült, was Sie da als Vize-Ministerpräsident gesagt haben?
Was nicht gesendet wurde, war der Satz davor, in dem ich gesagt habe, dass wir allen Ortskräften und deren Familien sowie zusätzlich Gefährdeten wie Frauenrechtlerinnen oder Journalistinnen und Journalisten Schutz in Deutschland geben müssen. Da unterscheiden wir uns überhaupt nicht von der Bundespartei. Unabhängig davon muss man natürlich die Nachbarländer stärken. Das war ja auch eine der Lehren aus der Situation 2015. Da haben wir Länder wie den Libanon oder Jordanien alleine gelassen.
Tarek Al-Wazir zur Bundestagswahl: Land muss umsetzen, was Bund beschließt
Die Grünen in der Opposition im Bund haben schon früh gesagt, es dürfe keine Abschiebungen nach Afghanistan mehr geben. Die Regierungs-Grünen in Baden-Württemberg oder Hessen hingegen: Wir schieben vorwiegend Straftäter und Gefährder ab. War das ein Fehler?
Wir machen als Länder keine Außenpolitik. Lageberichte des Auswärtigen Amts werden in Berlin geschrieben. Faktisch gab es keinen Unterschied zwischen dem, was Bodo Ramelow (Linken-Politiker und Ministerpräsident, Red.) in Thüringen und dem, was Volker Bouffier in Hessen gemacht hat. Auch Thüringen hat in diesem Jahr noch Straftäter abgeschoben. Am Ende muss der Bund zu einer Lageeinschätzung kommen. Aus Hessen sind übrigens am Ende nur Straftäter abgeschoben worden.
Aber es ist doch so, dass die Grünen in der Opposition mehr versprechen, als sie in einer Regierung halten.
Die große Koalition hat in der Afghanistan-Politik ein Desaster zu verantworten. Wir Grüne haben schon sehr früh gesagt: Kümmert Euch um die Ortskräfte. Es wurde schlicht nicht reagiert. Wenn die Grünen in Berlin regieren, verantworten sie auch die Lageberichte des Auswärtigen Amts. Da würde dann auch anders thematisiert, wenn ein Innenminister sich darüber freut, dass 69 Afghanen gleichzeitig abgeschoben werden, so wie es Herr Seehofer (Bundesinnenminister von der CSU) an seinem 69. Geburtstag getan hat. Bayern hat übrigens am meisten abgeschoben, und zwar nicht nur Straftäter. Das ist der Unterschied.
Grüne Urgesteine sind enttäuscht, dass die Autobahn 49 in Hessen gebaut wurde, trotz eines grünen Verkehrsministers. Früher haben sich Protestbewegungen um die Grünen gesammelt, heute wird gegen die Grünen protestiert.
Ich kann verstehen, wenn da protestiert wird. Der Europaabgeordnete Martin Häusling hat die Grünen mitgegründet, und ein Grund, warum er sich 1979 politisch engagiert hat, war der Plan, eine Bundesautobahn von Kassel nach Gießen praktisch über seinen Hof zu bauen. Ich habe riesengroßes Verständnis, dass es ihm wahnsinnig wehtut zu sehen, dass diese Autobahn jetzt fertiggebaut wird. Aber ein grüner Landesminister ist kein König und kein Diktator. Wenn die Bundesregierung diesen Autobahnbau beschließt, der Bundestag mit den Stimmen der großen Koalition den Auftrag vergibt und das höchstrichterlich bestätigt wird, dann muss ein Landesminister das in Auftragsverwaltung umsetzen. Ansonsten wäre ich wie Donald Trump und würde sagen: Recht und Gesetz interessieren mich nicht. Das bin ich nicht.
Vize-Ministerpräsident Tarek Al-Wazir: Schwarz-grüne Koalition in Hessen als Vorbild für Berlin
Taugt denn das, was Sie seit knapp acht Jahren in Wiesbaden als schwarz-grüne Koalition vorleben, als Vorbild für Berlin?
Es taugt als Vorbild insofern, dass wir jeden Tag daran arbeiten, das umzusetzen, wofür wir gewählt wurden. Nach der ersten Legislaturperiode sind wir ja dafür deutlich bestätigt worden. Hessen ist beim Ökolandbau das führende Flächenland. Bei der Verkehrswende sind wir mit dem Schülerticket, Seniorenticket oder Landesticket ein Vorbild für viele andere Bundesländer. Die Hälfte der Hessinnen und Hessen kann schon mit einem solchen Flatrate-Ticket fahren. Wir haben die Stromerzeugung aus Erneuerbaren verdoppelt, liegen jetzt über 50 Prozent.
Zur Person
Tarek Al-Wazir hat für die Grünen 2013 die erste schwarz-grüne Koalition in einem deutschen Flächenland geschmiedet. Seit 2014 amtiert der Politologe aus Offenbach als Stellvertreter des hessischen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU).
Der 50-jährige Vater zweier Söhne verantwortet zugleich ein großes Ministerium mit der Zuständigkeit für Wirtschaft, Verkehr, Energie und Wohnen. Zuvor hatte Al-Wazir seit 2000 insgesamt 14 Jahre lang an der Spitze der Grünen-Landtagsfraktion in Hessen gestanden. Ins Landesparlament war er bereits 1995, zur Zeit der rot-grünen Koalition in Hessen, eingezogen, im Alter von 24 Jahren. pit
Aber es ist kaum ein Windrad neu gebaut worden.
Es sind seit 2014 Hunderte neu gebaut worden, aber ja, 2019 waren es nur vier, wegen der EEG-Novelle der großen Koalition in Berlin. Verantwortlich für diese Novelle war übrigens ein SPD-Minister: Sigmar Gabriel. Wichtig ist uns auch der soziale Zusammenhalt. Erinnern wir uns an die CDU-Alleinregierung, die 2004 die Landeszuschüsse für Frauenhäuser und andere soziale Einrichtungen auf null gefahren hat. Und schauen Sie sich jetzt unser hessisches Sozialbudget an. Da macht Grün den Unterschied. In der Art, wie wir den Koalitionsvertrag umsetzen, sind wir ein Beispiel dafür, wie man regieren sollte.
Egal ob mit Olaf Scholz oder Armin Laschet als Kanzler?
Die sind beide in der großen Koalition. Meine Erfahrung auch aus rot-grünen Zeiten ist, dass auch die SPD beim Regieren nicht die Spitze des Fortschritts ist, ob bei Energie- oder Verkehrswende, und in Hamburg war Olaf Scholz als Erster Bürgermeister auch nicht sonderlich fortschrittlich. Ich habe die EEG-Novelle von 2017 schon angesprochen. CDU-Minister Altmaier hat es danach nicht besser gemacht, das stimmt. Aber das zeigt: Am Ende ist entscheidend, dass die Grünen stark und dabei sind.
Tarek Al-Wazir: „Ich möchte, dass wir umsetzen können, was Wähler:innen wollen“
Mit der CDU als Wunschpartnerin in Berlin?
Ich habe politisch keine Wunschpartnerin. Ich möchte, dass die Grünen so stark werden, dass an uns keiner vorbeikommt und wir umsetzen können, was unsere Wählerinnen und Wähler wollen – vor allem Klimaschutz und sozialen Zusammenhalt. Beim letzten Mal ist Christian Lindner mit der FDP vor der Verantwortung weggerannt. Ein Teil unserer bundesweiten Stärke seit 2017 ist, dass wir nicht vor der Verantwortung wegrennen.
Zieht es Sie nach Berlin?
Ach, ich bin doch glücklich hier. Wir wollen als Grüne in den Ländern dazu beitragen, dass die Grünen im Bund so stark werden wie irgend möglich. Wir werden natürlich auch helfen, im Wahlkampf und in Verhandlungen. Alles andere werden wir dann sehen.
Sie schließen also nicht aus, dass Sie nach Berlin gehen?
Das Wort „Ausschließeritis“ stammt aus dem Jahr 2008 und von mir. Ich werde jetzt nicht den Fehler machen, irgendetwas auszuschließen. Aber Sie sehen ja jeden Tag, dass ich hier eine große Aufgabe habe, an der ich mit Freude arbeite.
Bundesverkehrsminister wäre auch eine große Aufgabe.
Das ist richtig, und vor allem ist wichtig, dass da mal einer sitzt, der nicht von der CSU ist und der sich vor allen Dingen auch für Verkehrspolitik interessiert.
Tarek Al-Wazir: Grüner Verkehrsminister in Berlin müsste Prioritäten verhandeln
Was würde ein grüner Bundesverkehrsminister durchsetzen? Gäbe es keinen Autobahnbau mehr?
Natürlich würden wir dann verhandeln über die Frage, was aus dem Bundesverkehrswegeplan umgesetzt werden muss und was nicht und wo die Prioritäten liegen. Eine regelmäßige Evaluierung sieht der Bundesverkehrswegeplan ja auch vor.
Wenn die Grünen es alleine zu entscheiden hätten: kein Autobahnbau mehr?
Achtung! Es gibt auch da gültige Planfeststellungsbeschlüsse, höchstrichterliche Beschlüsse, vergebene Aufträge und Dinge, die bereits im Bau sind, wo dann sogar Schadenersatz drohen würde. Man muss also jedes einzelne Projekt genau betrachten, was noch veränderbar ist und was nicht, was Sinn macht und was nicht. Aber dass wir am Ende eine andere Schwerpunktsetzung brauchen, Sanierung vor Neubau und einen Schwerpunkt auf die Schieneninfrastruktur, das ist für Grüne unstrittig.
Wie stark würden Sie sich im Bund einmischen in Gebiete, bei denen Sie in Hessen lieber die Finger heraushalten wie die Innenpolitik?
Wir halten die Finger nicht raus aus der Innenpolitik. Aber wir tragen unsere politischen Differenzen halt nicht in der Öffentlichkeit aus. Das ist der große Unterschied zur großen Koalition. Wir haben Probleme bei Teilen der Polizei, das Frankfurter SEK, illegale Datenabfragen, die rechtsextremen Chats. Da muss man sich politisch entscheiden: Wollen Sie Probleme lösen, dann müssen Sie mit der Polizei und dem Innenminister an der Lösung arbeiten. Und genau das machen wir. Oder Sie machen es so wie die Linkspartei und sagen immer nur, was die anderen falsch machen. Ich habe mich immer dafür entschieden, daran zu arbeiten, dass es besser wird, statt immer nur zu beklagen, was die anderen falsch machen.
Das heißt, die Linke ist aus Ihrer Sicht nicht bereit für Verantwortung? Damit wäre die Option Rot-Rot-Grün ja erledigt.
Noch mal, man sollte nichts ausschließen. Aber ich habe nicht das Gefühl, dass es in der Linkspartei einen Drang gibt, Verantwortung zu übernehmen.
Was würden Sie Ihren Kolleginnen und Kollegen in Berlin mitgeben, wenn die Grünen künftig mit der CDU zusammenarbeiten würden?
Zuallererst: Mit wem wir am Ende zusammenarbeiten oder nicht zusammenarbeiten, das haben erst einmal die Wählerinnen und Wähler in der Hand. Niemand sollte automatisch davon ausgehen, dass Grüne in der Bundesregierung sind. Wir sehen gerade in Sachsen-Anhalt, dass auch Regierungen aus CDU, SPD und FDP ohne die Grünen gebildet werden, wenn wir ein schwaches Wahlergebnis einfahren. Wenn wir am Ende einen starken Auftrag bekommen für Klimaschutz, für Verkehrs-, Energie- und Agrarwende, für eine neue Politik nach 16 Jahren Angela Merkel und zwölf Jahren großer Koalition, dann muss man bereit sein, mit allen demokratischen Parteien zu sondieren, so wie wir es in Hessen getan haben. (Interview: Pitt von Bebenburg/Jutta Rippegather)