Tour mit Handicap
Die zehntägige Langlaufveranstaltung wird ihr radsportliches Vorbild nicht erreichen. Von Matti Lieske
Wenn in Oberhof Biathlon ist, dann braucht man im Skistadion am Grenzadler bloß das Licht anknipsen, und sofort sind zehntausend Thüringer versammelt, die jubeln, schunkeln, singen und Glühwein trinken bis zum Umfallen. Was die können, das können wir auch, dachten sich die Veranstalter der Tour de Ski und verlegten im vergangenen Jahr den Start der Rennserie nach Oberhof.
Doch die sehnsüchtig erwarteten Massen ließen sich beim diesjährigen Prolog der Tour am Neujahrstag nicht blicken und zogen es vor, die Nachwirkungen der Silvesternacht nicht unbedingt bei unwirtlichen Bedingungen auf den Tribünen eines Skistadions zu bekämpfen.
Die Betreiber der Getränkestände mussten den größten Teil ihres Glühweinbestandes selber trinken, es waren eher kleine Häuflein von Wintersportfans, die sich erst das Rennen der Frauen über 2,8 Kilometer, welches die Slowenin Petra Majdic gewann, dann jenes der Männer über 3,7 Kilometer mit dem Norweger Petter Northug als Sieger anschauten.
"Die meisten Deutschen schlafen noch und pflegen ihre Kopfschmerzen", vermutete Axel Teichmann, der seinen Prolog-Sieg vom Vorjahr nicht wiederholen konnte, aber immerhin Dritter hinter dem Schweizer Marcus Hellner wurde.
Auch im vierten Jahr der nach dem radsportlichen Vorbild der Tour de France konzipierten Serie von Langlaufrennen vermag das Projekt Tour de Ski noch nicht zu überzeugen, auch wenn peinliche Anfangsschwierigkeiten wie die abgesagten Etappen in Oberstdorf vor zwei Jahren inzwischen überwunden sind.
Das Wintersport-Biotop Oberhof stellte im vergangenen Jahr auf jeden Fall einen Gewinn dar, den Prolog hatten damals tatsächlich 10.000 Menschen verfolgt, allerdings drei Tage vor Silvester. Gian Franco Kasper, Präsident des Weltverbands Fis, war so begeistert, dass er öffentlich darüber nachdachte, eine zweite Tour de Ski in Skandinavien ins Leben zu rufen. Eine Vorstellung, welche die Athleten angesichts der enormen Anforderungen einer solchen Serie mit gelindem Schrecken erfüllte.
Acht Rennen sind in zehn Tagen in verschiedenster Form - klassisch, frei, Sprint, Langstrecke - zu absolvieren, am Ende steht am 10. Januar ein brutaler Schlussanstieg nach L´Alpe Cermis in Val di Fiemme, der keinen Vergleich mit dem Tourmalet der Radfahrer scheuen muss. "Das ist verrückt für jeden", sagte die Polin Justyna Kowalczyk, Drittplatzierte des gestrigen Prologs.
Skilangläufer sind keine Radprofis, ihr Sport ist völlig anders organisiert, sie fahren nicht in Teams, sondern jeder für sich, und ihr Saisonhöhepunkt ist eben nicht die Tour, sondern normalerweise die WM und in diesem Jahr Olympia. Die Trainingsplanung ist auf die Spiele in Vancouver im Februar ausgerichtet, weshalb wohl noch mehr Spitzenläufer als sonst die Tour de Ski vorzeitig beenden werden.
"Ich hoffe es ist ein gutes Training für Olympia", meinte Justyna Kowalczyk, "aber sobald ich mich nicht gut fühle, breche ich ab und trainiere lieber." Ähnlich sieht es Teichmann: "Die Tour de Ski ist nicht nur Wettkampfbestandteil, sondern auch Trainingsbestandteil", sagt der Mann mit dem Walter-Ulbricht-Spitzbärtchen, der im vergangenen Januar bis zuletzt Chancen auf den mit 90.000 Euro honorierten Gesamtsieg hatte und schließlich als Dritter in L´Alpe Cermis ankam, hinter dem Gewinner Dario Cologna aus der Schweiz und dem Norweger Northug.
Auch diesmal will er im Prinzip nach L´Alpe Cermis, doch klar sei: "Olympia steht in diesem Winter über allem." Tobias Angerer, 35. beim Prolog, will vom Verlauf der ersten Etappen abhängig machen, ob er durchläuft. Im vergangenen Jahr hatte er wie René Sommerfeldt und kurz vor Schluss Evi Sachenbacher-Stehle die Tour vorzeitig abgebrochen. Und für Petter Northug, den stärksten Langläufer des bisherigen Winters, ist die größte Herausforderung keineswegs die starke Konkurrenz, sondern: "Gesund bleiben."
Die Tour de Ski startet also nach wie vor mit einem Handicap, denn natürlich ist es der Publikumsakzeptanz einer Sportveranstaltung nicht zuträglich, wenn das Interesse der Topleute eher pragmatischer Natur ist. "Vom Format der Tour de Ski bin ich überzeugt", beharrt dennoch Fis-Präsident Kasper.
Die Überzeugungskraft seiner Argumente wäre gewiss größer, wenn die Thüringer ihren Silvesterkater schnell überwinden und an den beiden restlichen Wettkampftagen in Oberhof mit der Verfolgung am Sonnabend und dem Sprint am Sonntag wieder in bewährter Zahl den Weg zum Grenzadler finden.