Kein heißer Einzelfall

Die Spiele von Tokio geben einen Vorgeschmack auf Spitzensport im Klimawandel.
Brutal“ hat der Tennis-Weltranglistenerste Novak Djokovic das Wetter in Tokio genannt. Athleten „könnten sterben“, befürchtete der Ranglistenzweite Daniil Medwedew und forderte die Verlegung aller Partien vom Vormittag auf den Abend. Doch was beim mittlerweile beendeten Tennisturnier nach einigen Beschwerden gelang, ist nicht in allen Disziplinen möglich gewesen. Und wie viel Erleichterung eine Verschiebung um ein paar Stunden bringt, ist ohnehin ungewiss. Auch nachts erreicht Tokio im Sommer noch Temperaturen von an die 30 Grad.
Die Olympischen Spiele sorgen nicht nur wegen der Pandemie für Diskussionen über gesundheitliche Risiken. Schon lange bevor irgendwer auf der Welt von Covid-19 gehört hatte, war „Tokyo 2020“, wie sich die Spiele auch nach der pandemiebedingten Verschiebung um ein Jahr weiterhin nennen, aus mehreren Gründen kontrovers. Da waren die hohen Kosten, der schleppende Wiederaufbau der vor zehn Jahren in einer Natur- und Atomkatastrophe zerstörten Gebiete. Und dann war da die zu erwartende Hitze.
Die Monate Juli und August sind die heißesten des japanischen Kalenders. Dabei kommt zu den durchschnittlichen Höchsttemperaturen von mehr als 30 Grad noch eine enorme Luftfeuchtigkeit von mehr als 80 Prozent, Anfang August sogar etwas mehr als 90 Prozent. Gut trainierte Freizeitjogger halten es unter diesen Bedingungen kaum eine Stunde aus, ohne dass sie von Schwindelgefühlen beeinträchtigt werden. So verlegten die Veranstalter den olympischen Marathon sowie die Wettbewerbe im Gehen, die von Donnerstag bis Sonntag stattfinden werden, schon vorletztes Jahr ins auf der Nordinsel Hokkaido gelegene Sapporo.
Das grundsätzliche Problem ist damit nicht behoben, weder für Tokio noch für den Sport generell. „Wenn man die Temperaturen und die Luftfeuchtigkeit zusammenrechnet, sind die Spiele von Tokio die schlimmsten, die es je gab“, sagte Makoto Yokohari, Professor für Umwelt und Stadtplanung an der Universität Tokio, schon im vergangenen Herbst der Nachrichtenagentur Reuters. Yokohari hat die klimatischen Bedingungen aller Olympischen Spiele von jenen 1984 in Los Angeles bis heute verglichen.
Für Yokohari geht es hierbei um gesundheitliche Gefahren für Athlet:innen sowie - auch wenn dies nun wegen der Pandemie nicht zutrifft - für Zuschauer:innen. In der Tat erklärte am vergangenen Wochenende Toshiro Muto, CEO des Tokioter Organisationskomitees, dass in der ersten Olympiawoche 30 für die Spiele arbeitenden Personen wegen der Hitze gesundheitliche Schäden erlitten haben. Niemand davon sei aber in eine kritische Situation geraten. Wobei in Japan jeder Sommer auch zu Todesfällen durch Hitzschläge führt.
Der August 2020 war der bisher tödlichste Monat, was Hitzschläge in Tokio anging. 193 Personen, vor allem Senior:innen, kamen vor einem Jahr ums Leben. Tendenziell steigen diese Werte schon lange. An Tokioter Bahnhöfen wird im Sommer regelmäßig über Lautsprecher dazu aufgerufen, dass die Menschen genügend trinken. Auch zu diesem Zwecke befinden sich an jeder größeren Ecke der japanischen Hauptstadt Getränkeautomaten mit relativ günstigen Preisen.
Schließlich treten im Klimawandel nicht nur Extrembedingungen häufiger auf und verlaufen schwerer, dazu gehören neben Hitzewellen auch Dürreperioden und andere Naturkatastrophen. Zudem nehmen die Durchschnittstemperaturen zu. Nach Zahlen der Britischen Vereinigung für nachhaltigen Sport ist Tokio heute im Schnitt 2,86 Grad heißer als im Jahr 1900, der weltweite Durchschnittswert ist demzufolge um 0,96 Prozent gestiegen. Die NGO „Football for Future“ geht davon aus, dass Leistungssport im Freien an mehreren Orten der Welt über die nächsten Jahrzehnte unmöglich werden wird.
So sind die Spiele von Tokio nicht nur ein heißer Einzelfall. Die „Asahi Shimbun“, Japans zweitgrößte Tageszeitung, schrieb vergangene Woche: „In einer sich schnell erwärmenden Welt ist Tokio das Barometer für künftige Olympische Spiele.“ Die Prognose bezieht sich einerseits auf gesundheitliche Risiken, andererseits auf sportliche Leistungen. Mike Tipton, Professor für Humanphysiologie an der britischen Universität Portsmouth, erwartet mittelfristig eine Abnahme des Wettkampfniveaus. Und Makoto Yokohari von der Universität Tokio gibt zu bedenken, dass auch technologische Maßnahmen wie die Kühlung der Stadien oder der Laufbahnen nur „begrenzte Effekte“ haben.
Den Veranstalter:innen der Spiele ist dies bekannt. „Wir sind überhaupt nicht optimistisch, was das Wetter angeht“, sagte Masa Takaya, Sprecher des Tokioter Organisationskomitees, schon im vergangenen Jahr. Als Tokio 1964 erstmals die Olympischen Spiele veranstaltete, fanden diese im viel milderen Oktober statt. Die Verschiebung von „Tokyo 2020“ aber war nur um genau ein Jahr möglich. Nicht zuletzt dem US-amerikanischen Fernsehsender NBC, der die höchste Summe an TV-Lizenzgebühren zahlt, passen Spiele im Hochsommer am besten in den Sportkalender.