Wie Kreisliga

Union Berlin spielt alles andere als überragend Fußball, aber unfassbar erfolgreich und ist Bayernjäger Nummer eins. Die Frage bleibt: Wie kann das sein?
Es sind zuletzt mit offenem Mund eine Reihe von Erklärungen gesucht worden für den märchenhaften Aufstieg von Union Berlin. Ruhe war dabei, mannschaftliche Geschlossenheit, ein kluger Matchplan, Urs Fischer, aber eigentlich liegt es - glaubt man einem Insider - daran, dass sich das in Köpenick so anfühlt „wie in der Kreisliga - nur ohne Bier“. Deswegen hat der frühere Berliner Profi Max Kruse der Union seinerzeit nicht den Rücken gekehrt, es war nicht fehlendes Bier, sondern mehr Geld (beim VfL Wolfsburg). Aber vermutlich hat der sein Herz gern auf der Zunge tragende Stürmer ein bisschen Recht mit seiner Aussage: Man geht gerne zur Arbeit in Köpenick, hat Spaß am Fußball, weiß, wo man herkommt, geht öfter in Mannschaftsstärke gemeinsam zum Essen und empfindet vermutlich gerade eine diebische Freude daran, „die Großen zu ärgern“, wie das Urs Fischer, der Schweizer Coach, schelmisch sagt: „Der Wahnsinn geht weiter.“
Und wie: 42 Punkte, Tabellenplatz zwei, erster Bayernjäger, nur vier Spiele verloren, alle sechs Pflichtspiele in 2023 gewonnen. Sechs Punkte Vorsprung besitzen die Berliner bereits auf RB Leipzig, das nach der jüngsten 1:2-Heimniederlage gegen Union zurückfiel. Zwölf Zähler sind es auf den siebten Platz, der möglicherweise zur Teilnahme am europäischen Wettbewerb berechtigt. Sicher: nur eine Momentaufnahme nach 20 Spieltagen, und eine, die Fischer „surreal“ nennt.
Allein das Kollektiv zählt
Es ist auch deswegen so surreal, weil Union alles andere als attraktiven Fußball spielt. Und schon mal gar nicht überraschend, vermutlich sind die Berliner das Team, das am vorhersehbarsten spielt, jeder weiß, wie im Osten der Hauptstadt der Ball läuft: aus einer starken Abwehr heraus, die nur 24 Gegentore zuließ, wird schnell und mit schnellen Spitzen gekontert, Chancen werden eiskalt ausgenutzt, Fehler tunlichst vermieden, fertig ist das Konzept. Die SZ hat Fischers Fußballer als „Meister des Minimalismus“ bezeichnet. Erstaunlich: Mit einfachsten Mitteln schafft die Mannschaft in Serie Erstaunliches und maximalen Erfolg. Unions Strategie fußt auf Handwerk, nicht auf Genius.
Diese Mannschaft hat Urs Fischer, der zuvor nur Klubs in der Schweiz trainierte (Zürich, Thun, Basel), geprägt. Er hat den Spielern, wie es heißt, ganz klare taktische Vorgaben gegeben, jeder Einzelne weiß, was er zu tun hat. Im Kollektiv Unions gibt es keine individuellen Freiheiten, keine Stars, die den Unterschied machen, jeder hat seinen Job zu erfüllen, jeder weiß, was er kann und was nicht. „Der linke Verteidiger will nicht wie Messi fünf Mann ausspielen“, erzählt Kruse. Individuell gibt es in der Liga viele Teams, die besser besetzt sind als die Berliner, ihr Zusammenspiel hebt sie aber heraus.
Schließlich hat der Klub zweierlei hervorragend geschafft: Er kompensiert namhafte Abgänge (Friedrich, Kruse, Ryerson, Prömel, Awoniyi) ideal und macht Neuzugänge, die mitunter von ihre alten Klubs weggeschickt wurden (Roussillon, Michel, Behrens, Knoche) besser.
Dazu genießen sie ihr Underdog-Image, Fischer spielt damit, sprach bis vor dem Leipzig-Spiel von den berühmten 40 Punkten, die erst erreicht sein müssten. Jetzt wolle er andere Ziele kommunizieren. Dazu zeichnet sie eine erstaunliche mentale Stärke aus. Allein in diesem Jahr hat Union vier Rückstände gedreht, zuletzt in Leipzig, das erstmals nach 18 Spielen eine Partie verlor. Wo das alles enden soll? Verteidiger Nico Gießelmann, noch so ein No-Name-Kicker, hat es gesagt: „Wenn wir jetzt alles gewinnen, dann werden wir Deutscher Meister,“