Wie ein Kapitän ohne Steuermänner

Warum der Trainer Graham Potter einen so schweren Stand beim FC Chelsea hat, sich mit einem Sieg über Borussia Dortmund aber Luft verschaffen kann.
Er trug damals ein Sakko, darunter eine Jacke und einen Rollkragenpullover. Alles fein abgestimmt in dunklem Ton, und wer Graham Potter noch mal nachträglich studiert, wie der Teamchef des FC Chelsea vor drei Wochen die unglückliche Niederlage im Achtelfinalhinspiel der Champions League bei Borussia Dortmund (0:1) in der Pressekonferenz erklärte, dem bleiben zwei Dinge haften. Der fatalistische Potter-Satz „It is what it is“ (Es ist wie es ist) und ein skurriles Mienenspiel, in denen sich in knapp fünf Minuten das Leiden eines Mannes spiegelte, der sich die Mission bei diesem Weltklub – immerhin noch Champions-League-Sieger 2021 unter seinem Vorgänger und Ex-BVB-Coach Thomas Tuchel – sicherlich ganz anders vorgestellt hatte.
Mehrfach kratzte sich der 47-Jährige erst an seinem Bart, dann am Ohr – dann legten sich tiefe Sorgenfalten auf die Stirn. Dass „wir ein Tor verdient hatten“ und dass man im Rückspiel an der Stamford Bridge (Dienstag 21 Uhr/Amazon Prime) trotzdem „besser spielen müsse“, hatte Potter irgendwann so oft gesagt, dass er einen kräftigen Schluck Wasser benötigte. Freilich: Nur durch ständige Wiederholungen lösen sich die latenten Probleme nicht auf. Durch das 1:0 gegen Leeds United gelang nach sechs sieglosen Pflichtspielen am Wochenende gerade rechtzeitig ein Erfolgserlebnis, aber die „Blues“ hängen weiter im grauen Mittelmaß fest. Toreschießen ist das Kardinalproblem.
Erst 24 Treffer in 25 Ligaspielen sind ein Armutszeugnis für diesen Luxuskader. Der Tabellenletzte AFC Bornemouth kommt auf dieselbe Ausbeute, ohne dafür 600 Millionen Euro in Sommer und Winter für neue Spieler in den Markt gepumpt zu haben. Klar, dass diese Tatsache beim Mitte September installierten Trainer Spuren hinterlässt. Als sich der im kleinen Städtchen Solihull bei Birmingham geborene Potter bei Chelsea vorstellte, nachdem man ihn vom Ligagefährten Brighton & Hove Albion loseisen konnte, sah er im Vergleich zu heute total erholt aus.
Das pulsierende Seebad mit der frischen Luft und für englische Verhältnisse erstaunlich vielen Sonnenstunden – jedes Wochenende beliebtes Anlaufziel für eine internationale Gay-Community – hatte ihm offenbar gut getan. Potter hatte drei Jahre lang prima Arbeit an diesem Standort geleistet. Er, der ein bisschen an einen Hamburger Hafenkapitän erinnert, schien perfekt zu den „Seagulls“, den Seemöwen, zu passen. Denn dort folgte ihm sein Team fast bedingungslos.
Dem Lockruf aus dem Nordwesten Londons, von Brighton übrigens per Zug nur die Dauer eines Fußballspiels entfernt, konnte er letztlich nicht widerstehen.
Für einen Coach, der von 2011 bis 2018 beim schwedischen Erstligisten FK Östersunds bemerkenswerte Pionierarbeit verrichtete – mit dem Underdog schaltete er 2017/2018 unter anderem Hertha BSC im Europapokal aus – der konnte dieser Versuchung nicht widerstehen. Die Frage ist nur, ob sich Potter an dem Projekt nicht schon verhoben hat. „Bei Chelsea arbeitet man mit anderen Egos, das ist die Challenge für ihn“, warnte kürzlich Pascal Groß, der ehemalige Bundesliga-Profi und Brighton-Spieler.
Auch der öffentliche Druck ist enorm. Nur weil sich Potter nicht so über Gegner, Schiedsrichter oder VAR beschwert wie andere Kollegen, wird ihm auch das vorgeworfen. „Dieselben Medien, die davon sprechen, dass ich wütender sein soll, berichten gleichzeitig über Probleme mit Schiedsrichtern im Amateurfußball“, erklärte er daraufhin. „Sie sehen den Zusammenhang nicht.“ Er sehr wohl. Und doch bleibt die Kritik an seiner Arbeit mitunter ätzend, und sie verliert jedes Maß, wenn Morddrohungen eintreffen, von den Potter einmal fast beiläufig erzählt hat.
Trotzdem versucht er meist, sachlich zu bleiben. „Einige Leute werden denken, dass ich das Problem bin. Ich glaube nicht, dass sie Recht haben. Aber das bedeutet nicht, dass sie ihre Ansichten nicht artikulieren dürfen.“ Vielleicht rettet ihm diese Ruhe noch den Job, doch allzu lange wird sich der milliardenschwere Eigner Todd Boehly die Ergebniskrise nicht anschauen. Das Weiterkommen in der Königsklasse ist Pflicht für einen Verein, der ansonsten keine realistische Chance mehr auf einen internationalen Wettbewerb hat.