Ukrainischer Sommernachtstraum

Vor zehn Jahren begann die Fußball-EM in Polen und der Ukraine. Ein gelungenes und ziemlich friedliches Fußballfest. Aber die Schauplätze von damals sind jetzt Schlachtfelder.
Es gab bitterböses Blut in Donezk. Anhänger der englischen Fußballnationalmannschaft trugen einen Holzsarg durchs Stadtzentrum. „Du liegst falsch, Campbell!“ stand darauf geschrieben: „Wir machen, was wir wollen.“ Die Engländer erbosten sich gemeinsam mit ukrainischen Fußballfans über ihren ehemaligen Nationalverteidiger Sol Campbell, der vor der EM seine Landsleute vor gewalttätigen ukrainischen Rassisten gewarnt hatte: „Bleibt zu Hause, schaut es euch am Fernsehen an“, erklärte er der BBC. „Riskiert es nicht, hinzufahren… Ihr könntet in einem Sarg zurückkehren.“
Heute vor zehn Jahren begann in Polen und der Ukraine die Fußball-Europameisterschaft 2012. Die Veranstaltung war nicht unumstritten, vor allem hagelte es Korruptionsvorwürfe Richtung Ukraine. Aber sportlich wurde es ein Fest, spannend, auch ziemlich friedlich. Heute wirken die 24 Tage von 2012 für die Ukraine und für ganz Europa wie ein unbeschwerter Sommertraum.
In ihrem letzten Vorrundenspiel empfing die Ukraine in der Donbass-Arena England, das einen Punkt vorn lag – es ging um den Einzug ins Viertelfinale. Auch wegen Campbells Sprüchen sahen statt der erwarteten 15 000 nur etwa 3000 Fans von der Insel zu, das Stadion der späteren Separatistenhauptstadt war ganz in blaugelb. „Alle hatten sich in den ukrainischen Farben angemalt, alle sangen die Nationalhymne, feuerten unsere Mannschaft an“, erinnert sich der ukrainische Journalist Dmytro Durnjew, damals Fußballreporter der russischen Zeitung „Moskowski Komsomoljez“. Campbells Menetekel erfüllte sich nicht.
Es gab Skandale, nach der fatalen Niederlage gegen den Außenseiter Griechenland in Warschau erklärte Russlands Mittelfeldstar Andrei Arschawin mehreren Vip-Fans, es sei ihr Problem, wenn ihre Erwartungen nicht erfüllt worden seien. Die Moskauer Medien debattierten empört die Arroganz und mangelnde Vaterlandsliebe des Mannschaftskapitäns. Bis er sich halbherzig entschuldigte.
Wie üblich prügelten sich Fans: Kroaten gegen Schweden, Polen gegen Deutsche. In Lemberg gerieten auch russische und ukrainische Ultras aneinander, aber aus dem Rahmen fiel einzig eine Massenschlägerei zwischen Polen und Russen in Warschau. 10 Menschen wurden verletzt, 184 festgenommen.
Auch in der Donbass-Arena versammelten sich tausende fußballbegeisterte Russen, vor allem aus dem nahen Rostow am Don. Obwohl ihre Mannschaft dort gar nicht spielte, beim Viertelfinale zwischen Spanien und Frankreich skandierten Zehntausend „Russland! Russland!“ Aber sie waren friedlich.
Politisch war es eine Zeit gutnachbarlicher Kumpanei, der korruptionsumwitterte ukrainische Staatschef Viktor Janukowitsch empfing Wladimir Putin während der EM auf der Krim. Die liberale Ex-Regierungschefin Julia Tymoschenko saß derweil als mutmaßliche Betrügerin in Untersuchungshaft. Aber überall in der Ukraine wurde schon eifrig über Janukowitsch und seinen Clan diskutiert, die nach Ansicht vieler Bürger mit Enthusiasmus in die eigene Tasche wirtschafteten. Nach Einschätzung von EU-Parlamentariern wurden bei der Vergabe der ukrainischen EM-Bauprojekte etwa vier Milliarden Euro verschoben, laut der ukrainischen Opposition stiegen die geplanten Kosten der EM von gut drei am Ende auf 11,5 Milliarden Euro. Geschäftsleute klagten über immer saftigere „Schutzgelder“, die Janukowitschs Sicherheitsorganen kassierten.
Die wachsende Unzufriedenheit sollte im Herbst 2013 in prowestliche Massenproteste kippen, im Februar 2014 wurde Janukowitsch gestürzt. Russland konterte mit einer halb verdeckten Militärinvasion auf der Krim, in Donezk zettelten Moskauer Agenten einen separatistischen Aufstand an, in der Region tauchten Stoßtrupps russischer Berufsmilitärs auf. Der Kampf um den Donbass begann.
Der zur EM neu gebaute Flugplatz von Donezk wurde von der Artillerie der Rebellen und Russen dem Erdboden gleichgemacht. Die hochmoderne Donbass-Arena auf der anderen Seite der Front beschädigten ukrainische Geschosse nur leicht. Aber Donezk war jetzt Rebellenmetropole, der dort beheimatete Spitzenklub Schachtjor exilierte 2014 nach Lemberg. Die Donbass-Arena gammelt vor sich hin.
„Brennt in der Hölle“
Und seit dem 24. Februar muss sich die Ukraine Putins „Spezialoperation“ erwehren. In Charkiw, ebenfalls EM-Austragungsort, sind ganze Stadtviertel zerschossen, auch in Kiew und Lemberg schlagen weiter Raketen ein. Statt Toren zählen jetzt Volltreffer. Die Ultras zahlreicher ukrainischer Klubs kämpfen an der Front, viele verteidigten monatelang das eingeschlossene Mariupol und gingen in Gefangenschaft.
Die ukrainische Fußballmeisterschaft wurde abgebrochen, nur die Nationalelf kickt noch, scheiterte in der EM-Qualifikation knapp an Wales, heute geht es in der Nations League gegen Irland. Russlands Liga spielte die Saison zu Ende, aber alle russischen Mannschaften sind für internationale Wettbewerbe gesperrt.
Eine böse, blutige, fast fußballlose Zeit hat begonnen. Eine Zeit der Feindschaft. Das Portal sport.ua macht mit Frontnachrichten auf. Und zitiert den ukrainischen Fußballkommentar Viktor Wazko, der die Russen verflucht: „Brennt in der Hölle, ihr Missgeburten! Ich wünsche euch, dass ihr für immer ohne Fußball bleiben werdet.“
Im Donezker Schicksalsspiel 2012 siegte England bei strömenden Regen glücklich. Das einzige Tor erzielte Wayne Rooney per Kopf, nach einem Patzer des ukrainischen Schlussmanns Andrij Pjatow. Später verweigerte der Torrichter der Ukraine den durchaus verdienten Ausgleichstreffer, John Terry hatte einen Schuss von Marco Devic erst hinter der Linie abwehren können. Trotz des bitteren Scheiterns der Hausherren feierten Ukrainer und Briten hinterher gemeinsam. „Die Briten waren begeistert“, erzählt Durnjew, „dass der Whiskey im irischen Pub Golden Lion in Donezk billiger war, als bei ihnen zu Hause im Laden.“