Thomas Tuchel und Bo Svensson: Brüder im Geiste

Thomas Tuchel und Bo Svensson verbinden fünf gemeinsame Jahre als Trainer und Spieler bei Mainz 05 - jetzt treffen sie erstmals als Gegner aufeinander.
Manchmal können sich Kreise tatsächlich schließen; Lebenslinien abbiegen und punktgenau dort wieder ankommen, wo sie hingehören. Thomas Tuchel erscheint am Samstagnachmittag (15.30 Uhr/Sky) leibhaftig in der Mainzer Fußballarena und trifft mit seinem gebückt daherkommenden FC Bayern auf seinen Ex, einen aufrecht gehenden FSV Mainz 05. Dort coacht auffallend erfolgreich und bisweilen auffällig ähnlich in der unbeugsamen Herangehensweise mit Spielern und Medien sein einstiger Stopper Bo Svensson, nur sechs Jahre jünger als sein Mentor. Aber das ist noch nicht alles, was die Schicksale an diesem Samstag und Sonntag binnen 20 Stunden zueinander führt.
Denn kaum hat sich der Rasen nach dem Bundesligaspiel der Nullfünfer gegen die Bayern halbwegs erholt, kommen die Urenkel der Mainzer Trainerikone Tuchel angerannt und spielen am Sonntagmorgen (11 Uhr/Sky) an Ort und Stelle gegen Borussia Dortmund im Finale der Deutschen Meisterschaft. Genau gegen jenen selben Gegner also, den Tuchel im Sommer 2009 mit der Mainzer A-Jugend 2:1 besiegte - um nur fünf Wochen später zum Chefcoach in der Bundesliga befördert zu werden. „All das“, sagt der Mainzer Verteidiger Stefan Bell (31), der unter Tuchel seinerzeit den Juniorentitel holte, „macht dieses Wochenende besonders speziell.“ Mehr als 10 000 Tickets sind schon verkauft für die Partie von Tuchels Erben gegen Dortmund.
Stefan Bell hat höchsten Respekt vor Thomas Tuchel
Tags zuvor erwartet Verteidiger Bell, dass „Bo und Thomas versuchen werden, sich wie beim Schach gegenseitig auszuspielen“. Die beiden sind zu Brüdern im Geiste geworden, Svensson wird eine ähnliche Trainerkarriere wie Tuchel zugetraut. Bell hat allergrößten Respekt für die Akribie, mit der Nerd Tuchel schon die Mainzer Jugendspieler bisweilen an den Rand des Wahnsinns trieb: „Man hat schnell gespürt, dass er Spieler besser machen kann, weil er hohe Forderungen stellt und im Training auf jedes Detail achtet.“
Daran orientiert sich nun auch Svensson, der Tuchel auf dessen vorherigen Trainerstationen bereits besucht hat und nun erstmals als Gegner auf den guten Bekannten trifft. Der Däne hat sich einiges abgeguckt beim ehemaligen Vorgesetzten: „Es war eine sehr prägende Zeit. Ich war fünf Jahre lang unter ihm Spieler, wir hatten im fünften Jahr keine Trainingseinheit, die so war wie im ersten Jahr. Er hat mir die Augen geöffnet für eine andere Art zu coachen, wie man Leistungssport sieht, wie man eine Gruppe anspricht und packt. Er ist ein besonderer Trainer, ein besonderer Mensch für mich. Ich wäre sicher heute nicht da, wo ich bin ohne ihn.“
Zwischen Svensson und Tuchel hat es auch mal gekracht
Das sind große Worte, zu denen Svensson noch hintergründig lächelnd ergänzt: „Es ist nicht so, dass es immer schön war zwischen uns.“ Das eine oder andere Spiel hat der Däne seinerzeit auf der Bank verbracht, meist war er jedoch Stammverteidiger an der Seite von Kapitän Nikolce Noveski und Niko Bungert. Wenn es atmosphärisch geboten schien, hat Svensson sich dem Vernehmen schon mal gemeinsam mit Bungert aufgemacht, um mit dem nicht immer ganz pflegeleichten Trainer Tuchel vertrauensvoll zu sprechen.
Der gab jetzt den verbalen Blumenstrauß zurück: „Bo hat von meiner Seite nur die besten Worte verdient, weil er einen Superjob macht. Er hat schon als Spieler getickt wie ein Trainer. Das hat mich ein bisschen an mich selbst erinnert. Er hat ein so hohes Verständnis für das Spiel gezeigt, dass man sich vorstellen konnte, dass er ein sehr guter Trainer werden kann, wenn er sich in diesen Beruf verliebt. So ist es gekommen.“
Svensson lobt die taktische Flexibilität von Tuchel
Svensson ist noch heute tief beeindruckt über die Art und Weise, wie sein Ziehvater Tuchel die Gegner auscoachte, sich flexibel an deren Taktik und System orientierte und das der Mainzer Underdogs entsprechend spiegelte. Tuchel sei damit seiner Zeit voraus gewesen. Schon im dritten Bundesligaspiel unter dem gerade erst zum Chefcoach beförderten, damals erst 35 Jahre alten Tuchel gewann Mainz 05 mit einer taktischen Meisterleistung 2:1 gegen den FC Bayern und sorgte so für den schlechtesten Münchner Saisonstart seit 43 Jahren. Der gelernte Innenverteidiger Svensson agierte im defensiven Mainzer Mittelfeld, um dort Bastian Schweinsteiger zu bearbeiten.
Ein Jahr später siegte Mainz 2:1 in München, Svensson unterlief zwar ein Eigentor zum 1:1, die Nullfünfer verteidigten aber mit dem sechsten Sieg in Folge die Tabellenführung und schickten die demoralisierten Bayern mit zehn Punkten Rückstand auf Rang neun. Ein Husarenstreich der berühmt gewordenen „Bruchweg-Boys“, die am Saisonende hinter Hannover 96 (!) Tabellenfünfter wurden und in dieser sagenhaften Saison den Ruhm und Reichtum des aufstrebenden Trainer-Genies Thomas Tuchel mehrten.
Thomas Tuchel neigt zu Jähzorn
Auch wenn der - gerade in der Drucksituation auch wieder beim FC Bayern erkennbar - zu Jähzorn („Note sechs für den Schiedsrichter“) und Selbstgerechtigkeit („Hatten ManCity am Haken“) neigende Tuchel seinen Abschied in Mainz im Sommer 2014 in Form und Anstand maximal verhunzte, bleiben seine Großtaten dort unvergessen. „Er ist einer der besten Trainer der Welt. Im Moment ist das noch nicht die Mannschaft von Thomas Tuchel. Aber sie wird es werden – und es wird gut werden“, sagt Christian Heidel dem „Münchner Merkur“. Der Mainzer Sportvorstand schied seinerzeit im Groll von Tuchel, hat die Beziehung aber zwischenzeitlich wieder im gegenseitigen Interesse glattgebügelt.
Anders als in Mainz, wo der Jungtrainer sofort die richtigen Stellschrauben drehte, hat Tuchel bislang bei den Bayern die richtigen Knöpfe noch nicht gefunden. Man stelle sich vor, Vorgänger Julian Nagelsmann hätte eine vergleichbar magere Ausbeute (Aus im DFB-Pokal gegen Freiburg, 1:1 in der Bundesliga gegen Hoffenheim, Scheitern in der Champions League gegen Manchester City) vorgetragen - er wäre spätestens jetzt von den Granden vom Hof gejagt worden. Als Nagelsmann noch Chefcoach in München war, erinnert sich Bo Svensson, „waren wir diese Saison in beiden Spielen gegen die Bayern chancenlos“. Sowohl in der Liga in München (2:6) als auch daheim im DFB-Pokal (0:4).
Ein bisschen Magengrummeln hat Svensson vor der ausverkauften Partie am Samstagnachmittag, das gibt er zu. Denn: „Wenn die Bayern am meisten zu beweisen haben, geben die meistens die richtige Antwort.“ Wenngleich den gebeutelten Münchnern das zuletzt keineswegs gelungen ist, derweil Mainz nach neun Spielen ohne Niederlage mit Selbstvertrauen aufgepumpt ist. „Ich hoffe“, sagt Svensson, „dass meine Mannschaft ein geiles Spiel abliefert. Aber das hat nichts mit Thomas zu tun.“