Thomas Tuchel: Genie und Wahnsinn

Was der FC Bayern München vom neuen Trainer Thomas Tuchel zu erwarten hat: Perfektion, Launenhaftigkeit und Eigensinn im Umgang mit den Vorgesetzten.
Die aktuellsten Bilder, die der Boulevard von Thomas Tuchel jüngst veröffentlichte, waren Paparazzo-Fotos aus der Münchner Innenstadt. Tuchel, der dürre Hering, an der Seite seiner brasilianischen Freundin Natalie Max. Für München hat sich der 49-Jährige bereits vor geraumer Zeit als Fixpunkt seines Nomadenlebens als Fußballlehrer entschieden. Jetzt wird er in der Heimat seiner Wahl auch Trainer beim FC Bayern.
Kurze Wege waren für Tuchel stets von besonderer Bedeutung, um seiner Arbeit in der seinen Ansprüchen genügenden Perfektion nachzugehen. Er zog in seiner bemerkenswert erfolgreichen ersten Profitrainerstation beim FSV Mainz 05 von Wiesbaden nach Mainz, um dem Übungsgelände am Bruchwegstadion noch näher zu sein. Er bezog als Welttrainer 2021 eine Bleibe in Cobham nahe dem Trainingszentrum des FC Chelsea, seine damalige Frau Sissi und die beiden Töchter, elf und zwölf Jahre alt, waren bald mit dabei. Man sah sie noch gemeinsam als vermeintlich glückliche Familie nach dem Triumph im Finale der Champions League, als der Deutsche sein Vorbild Pep Guardiola nach allen Regeln der Trainerkunst ausgecoacht hatte, auf dem Platz des Estadio do Dragao in Lissabon.
Doch die Ehe mit der Journalistin, die er als Landesligatrainer kennengelernt hatte und der er vor jedem Spiel eine Kusshand zuzuwerfen pflegte, scheiterte bald darauf. Jetzt beginnt auch in Tuchels Berufsleben die nächste Etappe. Nach Mainz, Dortmund, Paris und London nun München. Stationen einer Weltkarriere.
Sie waren sich schon mal nah gekommen, die Bayern und Tuchel. Vor fünf Jahren war das, nachdem Tuchel es sich bei Borussia Dortmund mit Boss Hans-Joachim Watzke gründlich verscherzt hatte. Diplomatie in Krisenzeiten ist seine Sache gewiss nicht, Genie und Wahnsinn sind mitunter arg nah beieinander.
Uli Hoeneß wusste das, und er zögerte, denn er fürchtete, der im Umgang mit Vorgesetzten fürwahr nicht zu Unterwürfigkeit neigende Tuchel könnte sich als zu anstrengende Führungskraft für den FC Bayern erweisen. Als sich Hoeneß vom geschätzten Kollegen Karl-Heinz Rummenigge überzeugen ließ, war es schon zu spät, Tuchel hatte bereits bei Paris Saint-Germain zugesagt, dessen schwer erziehbares Staraufgebot der bayerische Schwabe ins Finale der Champions League 2020 führte und dort von Hansi Flicks Bayern knapp mit 1:0 geschlagen wurde.
Nach einem Tuchel-typischen Zerwürfnis mit PSG-Sportdirektor Leonardo kaum geschasst in Paris, übernahm Tuchel Anfang 2021 den FC Chelsea - und brauchte keine Anlaufzeit, um eine tief verunsicherte Mannschaft als Nachfolger von Frank Lampard zum Spitzenteam zu trimmen.
Ein holpriger Saisonstart in der Premier League und der Champions League bedeutete im Spätsommer 2022 das Ende bei den Südlondonern. Zu deren neuem Besitzer, dem US-Milliardär Todd Boehly, hatte sich nach Art des Hauses Tuchel keine Beziehung der gegenseitigen Zuneigung entwickelt. Die Trennung freilich kam dennoch ziemlich überraschend. Sportlich war sie eher nicht begründet.
Was genauso auffällt: Bei keinem Klub, den Thomas Tuchel verließ, wurde es danach direkt besser. Auch in Mainz hinterließ er am Ende tief enttäuschte Gesichter, als er trotz laufenden Vertrags ein Sabbatjahr beanspruchte, ehe er dann als Nachfolger des zurückgetretenen Jürgen Klopp nach Dortmund ging. Dort überwarf er sich zeitig mit dem damaligen Chefscout Sven Mislintat, auch die Zusammenarbeit mit Sportdirektor Michael Zorc und Boss Watzke gestaltete sich im Fortlauf wenig gedeihlich, sie mündete in gegenseitiger Abneigung zum Nachteil aller Beteiligten und frühzeitiger Trennung.
Tuchels herausragende Qualifikation steht außer Frage; Autoritäten schätzt er nur, wenn er deren Fachwissen in Fußballfragen akzeptiert, was selten vorkommt. Den damaligen Mainzer Vereinspräsidenten Harald Strutz missachtete er konsequent. Die Bayern-Granden Oliver Kahn, Hasan Salihamidzic und vor allem Vereinspräsident Herbert Hainer sollten gewarnt sein.
Tuchels Jähzorn, Launenhaftigkeit und ausgeprägte Streitlust stehen seinen überragenden Fähigkeiten, seiner weit überdurchschnittlichen Intelligenz und seinem Fleiß zuweilen im Weg. Der ehemalige Mainzer Torwart Heinz Müller schalt seinen Ex-Coach als „Diktator - was er mit mir gemacht hat, war Mobbing hoch zehn“.
Tuchel hatte sich mächtig über Müller geärgert, weil dieser sich trotz Hüftproblemen vor einem Auswärtsspiel in Augsburg (1:2) fit gemeldet hatte, dann aber zur Pause verletzt ausgewechselt werden musste. Der darob tief getroffene Müller wurde von Tuchel in die zweite Mannschaft abgeschoben und klagte später, letztlich erfolglos, auf eine unbefristete Fortführung seines Vertrags. Eine völlig unnötige Eskalation, die zuvorderst Thomas Tuchel zu verantworten hatte.