1. Startseite
  2. Sport
  3. Fußball

Schlitten fahren mit Königen

Erstellt:

Von: Thomas Kilchenstein

Kommentare

Des eine Freud, des anderen Leid: Haaland und Guardiola sind oben, Ancelotti (hinten) unter, Foto: AFP
Des eine Freud, des anderen Leid: Haaland und Guardiola sind oben, Ancelotti (hinten) unter, Foto: AFP © AFP

Real Madrid wird vom meisterhaft auftrumpfenden Manchester City nach allen Regeln der Kunst demontiert.

Wenn schon Toni Kroos einem TV-Reporter im ganzen Satz antwortet, ohne zu motzen auskommt und tatsächlich wörtlich von „einer verdienten Niederlage“ spricht, „definitiv“, dann muss gerade Außergewöhnliches passiert sein. Das war es auch, womöglich war diese 0:4 (0:2)-Abreibung im Halbfinale der Champions League mehr als nur eine Schlappe für den Titelverteidiger. Es sah eher nach Götterdämmerung aus. Vielleicht geht ja dieser 17. Mai 2023 auch in die Annalen ein als der Tag, an dem eine große Mannschaft an ihr Ende gekommen ist; eine Zäsur könnte es gewesen sein für Real Madrid, die Königlichen, hin- und hergespielt von einem entfesselten Ensemble lauter erstaunlicher Fußballer. Es war zeitweise eine Demontage, eine Vorführung. Das, was Manchester City da in diesen atemraubenden 90 Minuten auf den Rasen zauberte, war in der Tat nahe an der Perfektion.

Real Madrid, nicht gerade Laufkundschaft und Stammgast in den ganz großen Endspielen dieses Planeten, fünffacher Henkelpott-Sieger in den letzten zehn Jahren, darunter dreimal in Folge, mit diesem Real Madrid wurde Schlitten gefahren, es wurde am Nasenring durch die Arena gezogen, und nichts unterstreicht die absolute Unterlegenheit der Spanier besser, dass ihr mit Abstand bester Mann zwischen den Pfosten stand: Thibaut Courtois bewahrte mit drei, vier überragenden Paraden, vor allem gegen Erling Haaland, die Madrilenen vor einer noch größeren Schmach. Trotzdem konnte der Belgier den Doppelpack des wie aufgedreht spielenden Bernardo Silva (23./ 37.) nicht verhindern, der Ex-Dortmunder Manuel Akanji (76.), dessen Tor zunächst als Eigentor von Reals Eder Militao gewertet worden war, und Julian Alvarez (90.+1) veredelten das in der Höhe sensationelle Ergebnis.

Es war, das muss man so deutlich sagen, kein Spiel auf Augenhöhe, dazu war Real Madrid an diesem Mittwochabend nicht in der Lage, dazu war Manchester City, dieses von Scheich-Milliarden gepamperte Konstrukt, schlicht zu gut. Real sah sich plötzlich in der sehr ungewohnten Rolle eines Spielballs, eines Sparringspartners, der sich allein darauf besinnen konnte, nicht noch ärger unter die Räder zu kommen. So chancenlos hat man Real Madrid selten gesehen, von der ersten bis zur letzten Minute. Allein der Ballbesitz der Engländer, deren Kader übrigens auf einen Gesamtmarktwert von 1,05 Milliarden Euro taxiert wird, in den ersten 20 Minuten sagt alles über die unglaubliche Einseitigkeit dieser Partie: ManCity war da auf eine Quote von 79 Prozent gekommen.

Real, schrieb der „Telegraph“, war „auf eine erbärmliche Sammlung von Stoffpuppen“ reduziert worden. Im Kern hatten die Spanier eine einzige Chance, da krachte beim Stand von 0:1 ein Distanzschuss von Kroos an die Latte, es war eine Gelegenheit aus dem Nichts und wäre ein Treppenwitz gewesen, wenn Real damit zurück ins Spiel gefunden hätte. Aber genau das hatten sie, die Totgesagten, schon so häufig, auch in der Königsklasse, unter Beweis gestellt, pikanterweise im vergangenen Jahr im Halbfinale gegen ManCity, als die Briten nach einem 4:3-Hinspielsieg bis zur 90. Minute in Bernabeu 1:0 führten, um noch mit 1:3 zu verlieren.

Es dürfte nicht leicht für Real Madrid werden, sich von diesem Tiefschlag zu erholen. Irgendwann werden auch Luka Modric, 37, Karim Benzema, 35, oder auch Toni Kroos, 33, der wohl ein Jährchen anhängen wird, erkennen müssen, dass ihre Karrieren sich langsam dem Ende zuneigen. Von dem Ende einer Ära war kurz nach dem Schlusspfiff die Rede. „Das hatten wir doch schon mal“, sagte Kroos, 2019 nach einem 1:4 gegen Ajax Amsterdam. Danach räumte Real noch ein paar Trophäen ab, mit Carlo Ancelotti, dem Trainer, der nach diesem Abend ebenfalls in die Kritik geriet. Fragen wurden laut, ob der 63-Jährige, der als kommender Coach der brasilianischen Nationalmannschaft gehandelt wird, weitermachen kann. Der Italiener gab selbst die Antwort: „Niemand zweifelt an meiner Zukunft. Der Präsident war vor 15 Tagen sehr eindeutig.“ In der Tat dürfte in Madrid kaum einer eine solch grundsätzliche Entscheidung von einem Spiel abhängig machen.

Ancelotti erklärte die Demütigung so: „Man darf kein Drama daraus machen. Wir haben heute gegen einen Gegner gespielt, der den Sieg verdient hat. Sie haben in der ersten Halbzeit mit mehr Intensität und Qualität gespielt.“ Die Pleite sei auch „ein Schritt auf dem Weg, es im nächsten Jahr besser zu machen.“

In diesem Jahr bleibt den Königlichen nicht viel an Silber: nur den spanischen Pokal haben sie gewonnen, in La Liga sind sie abgeschlagen ohne Chance auf den Titel, in der Königsklasse hochkant rausgeflogen. Königliche Ohrfeigen sozusagen. mit dpa,sid

Auch interessant

Kommentare