Ralf Kellermann kritisiert Gianni Infantino

Der Sportdirektor beim VfL Wolfsburg, sieht noch viel Optimierungsbedarf im Frauenfußball und fragt sich, warum die Fifa die WM so spät terminiert hat
Vermutlich drängt der VfL Wolfsburg diesmal auf eine pünktliche Abfahrt. Wenn das verlegte Auswärtsspiel der Frauen-Bundesliga des Titelanwärters beim Abstiegskandidaten MSV Duisburg (Mittwoch 19 Uhr) beendet ist, wird die Delegation aus der Autostadt ein bisschen auf die Tube drücken. Es geht noch am selben Abend im Bus zurück nach Niedersachsen, gegen 2.30 Uhr wird die Ankunft erwartet. Denn es läuft bereits der Countdown fürs Champions-League-Halbfinale gegen Arsenal WFC (Sonntag 15.30 Uhr). Genau wie 2016, 2018 und 2020 wollen die „Wölfinnen“ wieder ins Finale. Die Engländerinnen haben kürzlich erst den FC Bayern ausgeschaltet und fürs Rückspiel am 1. Mai bereits 42 000 Tickets verkauft. Beim Hinspiel hofft Ralf Kellermann als Direktor Frauenfußball auf mindestens 20 000 Fans in der werkseigenen Arena. Der 54-Jährige erwartet umkämpfte Duelle „auf Augenhöhe“. Da ist jede Stunde Schlaf im Vorlauf wichtig.
Kürzlich nach dem Auswärtsspiel beim 1. FC Köln war man erst wieder mit großer Verzögerung abgefahren, so groß war der Andrang von Autogrammjäger:innen und vor allem das Verlangen nach Selfies mit Alexandra Popp, Lena Oberdorf oder Merle Frohms. „Ohne einen Ordnungsdienst können wir nicht mehr in den Bus kommen“, hat Kellermann beobachtet. Seit anderthalb Jahrzehnten ist der gebürtige Duisburger der entscheidende Mann bei den VfL-Frauen, und was er seit dieser Saison beobachtet, sei das, „was wir immer wollten“. Aufmerksamkeit und Anerkennung.
Wettbieten der Topklubs
Und doch ist nicht alles Gold, was im Glanze der EM in England glänzt. Umstritten ist zum einen das rasant steigende Investment der europäischen Topklubs. Der FC Barcelona plant mit Ada Hegerberg von Olympique Lyon einen Rekordtransfer, der alles übersteigt, was an Ablöse und Gehalt je im Frauenfußball aufgerufen wurde. Er bekomme bei jeder Vertragsverlängerung mit, „was auf dem Markt los ist“, sagt Kellermann, schließt aber aus, dass der deutsche Doublesieger das „Wettbieten“ (O-Ton Kellermann) der spanischen und englischen Klubs mitmacht, „wo Geld offenbar keine Rolle“ spielt.
Diskussionswürdig ist auch der Spielplan. Uefa und Fifa würden ohne viel Rücksicht (und Weitsicht?) ihre Termine ansetzen, kritisiert Kellermann. So finden die Champions-League-Halbfinals am Wochenende statt, weshalb Wolfsburg (und auch Arsenal) diese Woche im Ligaalltag ran müssten. Optimal ist das nicht. Trainer Tommy Stroot wird die am Rücken lädierte Nationaltorhüterin Frohms in Duisburg noch einmal schonen, Torjägerin Popp fällt mit ihrer Wadenverletzung vielleicht auch am Wochenende noch aus. Die Grenze der Belastung sei definitiv erreicht, „mehr geht nicht“.
Gerade das Programm für die Nationalspielerinnen ist längst am Anschlag, womit der Macher vom Mittellandkanal auch die schwachen Leistungen jüngst der deutschen Fußballerinnen gegen die Niederlande (1:0) und Brasilien (1:2) erklärt. Keine seiner Spielerinnen könne sich doch davon freimachen, dass kurz darauf das DFB-Pokal-Halbfinale zwischen dem FC Bayern und Wolfsburg (0:5) folgte. Er habe die Länderspiele in Sittard und Nürnberg gesehen, „ich hänge das nicht zu hoch“. Über das deutsche Team macht Kellermann sich für die WM in Australien und Neuseeland (20. Juli bis 20. August) „keine Sorgen“. Was dem ehemaligen Zweitligatorhüter viel eher missfällt, ist die Ansetzung des globalen Großevents: „Der späte Zeitpunkt hilft niemandem. Es gibt nur Probleme durch die Terminierung.“
Eine WM oder EM gehörten an das Ende einer Saison – nun sind es vom Champions-League-Finale am 3. Juni in Eindhoven bis zum WM-Start fast sieben Wochen. Der über die Gründe rätselnde VfL-Manager merkte in Richtung Fifa zynisch an: „Ich kenne die Urlaubsplanung von Herrn Infantino nicht.“ Der Fifa-Boss ist auch derjenige, der die europäischen Sendeanstalten mit Nachdruck zwingt, endlich Millionensummen für Fernsehrechte auszugeben, was ARD und ZDF mit Verweis auf die frühen Anstoßzeiten auf dem deutschen Markt aber nicht wollen. Mittlerweile ist fast wahrscheinlicher, dass es nicht mehr zu einer Einigung kommt. „Meine große Hoffnung ist es, dass wir die Frauen-WM noch in den Öffentlich-Rechtlichen zu sehen bekommen“, sagt Kellermann und fragt: „Warum haben wir denn den Hype?“ Eben weil die Medien ihn befeuern würden. Er selbst wird wie 2015 in Kanada oder 2019 in Frankreich auch bei dieser WM vor Ort sein, um sich ein Bild zu machen, wohin sich der Frauenfußball 2023 entwickelt.