Plädoyer für eine Regeländerung

Die jüngsten Vorfälle in London und Berlin haben gezeigt: Das Verhältnis von Schuld und Sühne bei Handspielen im Strafraum bedarf einer Änderung im Fußball.
Es hat in diesen Tagen zwei heftig umstrittene Eingriffe von Videoassistenten gegeben, über die das Fußballland debattiert. Auch deshalb, weil sowohl der VAR beim Königsklassen-Aus von Borussia Dortmund beim FC Chelsea als auch beim 1:1 von Hertha BSC gegen Mainz 05 eingriff, obwohl es sich jeweils nicht um eine schwerwiegende Fehlentscheidung des Schiedsrichters auf dem Platz gehandelt hatte.
Offenbar geht die Eingriffsschwelle des VAR gerade genau jenen Weg, den sie doch eigentlich nicht gehen sollte: Sie sinkt nämlich, was zu vermehrten Meldungen aus dem Überprüfungsraum führt. Und zwar auch dann, wenn nichts gravierend falsch gelaufen ist, sondern es sich um Abläufe im Graubereich eines hochkomplexen Spiels handelt, das früher angeblich mal ein einfaches Spiel gewesen sein soll.
Aktuell ging es sowohl in London als auch in Berlin um Handspiele, die zunächst nicht geahndet worden waren, nach Eingriff des VAR und eines Gegenchecks des Schiedsrichters in der Review-Arena am Spielfeldrand aber zu Strafstößen führten. Nach der Partie am Dienstag in London analysierte Dortmunds Boss Hans-Joachim Watzke arithmetisch ziemlich präzise: „Dass der Elfmeter eine 50:50-Entscheidung, ist überhaupt keine Frage.“ Am Samstag verstand der Mainzer Trainer Bo Svensson die Fußballwelt nicht mehr: „Dieses Thema ist sehr, sehr problematisch.“
Ja, das ist es in der Tat. In London war dem Dortmunder Marius Wolf der Ball aus Nahdistanz an den in der Drehung leicht abgespreizten, aber schlaff durchhängenden Arm geschossen worden. In Berlin hatte der Mainzer Leandro Barreiro eine Flanke mit einem langen Bein aufhalten wollen, beim Sprung benötigte er den Arm zur Balance, der Ball streifte die Hand unwesentlich, Suat Serdar kam dennoch zum Abschluss, traf den Ball aber nicht voll.
Wie zuvor beim Dortmunder Spiel in London gab es auch in Berlin Argumente für und wider eines Strafstoßes. Svensson befand, es sei „keine krasse Fehlentscheidung“ gewesen, also weiterspielen. Sky-Schiedsrichterexperte Alex Feuerherdt und ZDF-Fachmann Manuel Gräfe sahen es sehr ähnlich, der Unparteiische Benjamin Cortus erklärte, es sei gar nicht „um eine klare Fehlentscheidung, sondern um den sogenannten ‚serious missed incident‘ also einen übersehenen Vorfall auf dem Feld“ gegangen. Er habe die Situation schlicht nicht wahrgenommen, sich dann nach mehrfacher Analyse der Superzeitlupen aber überzeugen lassen: „Die Berührung ist da und die Armhaltung strafbar, von daher ist das ein Elfmeter.“ Sky-Experte Didi Hamann pflichtete bei: „Der Ball ist lange in der Luft und Barreiro sieht ihn. Für mich ist es ein strafbares Handspiel. Er verändert die Flugbahn nicht, aber nimmt Tempo vom Ball. Der Berliner hinter ihm nimmt es vielleicht nicht wahr, schießt aber mit dem Schienbein. Es ist ein klarer Vorteil für die Mainzer.“
Auch die Frankfurter Rundschau hat eine Meinung entwickelt, die sich nicht in der Analyse der wenig erhellenden, weil sich ständig ändernden Auslegung von Handspiel erschöpft. Es hat sich in der Vergangenheit immer wieder gezeigt, dass Handspiele im eigenen Sechzehnmeterraum relativ geringfügige Vergehen sind, die (im Gegensatz zu Fouls) mit einem Strafstoß viel zu hart geahndet werden.
Praktikable Lösung
Eine praktikable Lösung könnte deshalb sein, dass das für alle Regelfragen International Football Association Board als zuständiges Gremium der Fifa die eherne Regel aushebelt, dass Handspiele immer einen direkten Freistoß beziehungsweise im Strafraum einen Elfmeter zu Folge haben. Würde es stattdessen stets einen indirekten Freistoß geben (außer bei einer unmittelbaren Torverhinderung mit der Hand, die dann ja automatisch und richtigerweise eine Rote Karte nach sich zöge), würde das Verhältnis von geringfügiger Übeltat und entsprechender Bestrafung sich im angemessenen Rahmen bewegen. In London hätte es indirekten Freistoß an der Strafraumkante gegeben, in Berlin indirekten Freistoß etwas schräg vorm Mainzer Tor - und weniger Druck und scharfe Debatten für alle Beteiligten.