Philipp Lahm verlässt die Fußballbühne

Philipp Lahm konnte auf und neben dem Fußballplatz alles nahezu perfekt, ausgenommen Tore schießen. Am Samstag wird der Kapitän des FC Bayern München sein letztes Spiel gegen den SC Freiburg machen.
Philipp Lahm ist es gewohnt, dass die Dinge so laufen, wie er sie geplant hat. Aber zum Ende hin hatte er es sich anders vorgestellt. Das konnte jeder sehen, an jenem Mittwochabend Ende April, nach dem verlorengegangenen Halbfinale im DFB-Pokal gegen Dortmund. Nie zuvor hatte man den 33-Jährigen mit derart leeren Augen und vergleichbar fassungslos beobachten können.
Der Abschied im Endspiel der Champions League, der für diesen sehr besonderen Fußballspieler eine geeignete Bühne für ein Karriereende gewesen wäre, war da nach dem Aus gegen Real Madrid schon eine Woche lang obsolet, nun war auch der Trostpreis weg, das DFB-Pokalfinale von Berlin. Philipp Lahm wird somit an diesem Samstag in einem profanen Bundesligaspiel gegen den SC Freiburg seine letzten zehntausend Meter als Fußballprofi absolvieren. Dass der Kapitän nach dann 652 Pflichtspielen mit 21 Titeln im Konfettiregen die Meisterschale gen Münchner Himmel strecken wird, dürfte in der Routine des ständigen Titelträgers von Melancholie und Abschiedsschmerz überlagert werden. Philipp Lahm wollte jetzt schon gehen, lange bevor vielleicht andere entscheiden, Trainer oder Vorstände, dass er nicht mehr fix genug unterwegs sei.
Die strategische Planung hat stets zu den größten Stärken dieses kleinen Kerls gehört, der aufgrund seiner geringen Körpergröße und seiner Krächzstimme nur anfangs unterschätzt wurde; damals, im Sommer 2003, als sein Mentor Hermann Gerland den jungen Mann vergeblich leihweise in der halben Liga als „perfekten Spieler“ feilbot, ehe Felix Magath vom VfB Stuttgart zugriff und darüber niemals traurig sein sollte. Für Lahm, dessen Name so gar nicht zu seinem Arbeitsethos passt, war es der Beginn einer Weltkarriere, die auch durch einen früh erlittenen Kreuzbandriss und einer schweren Ellbogenverletzung unmittelbar vor der WM 2006 nicht aufzuhalten war.
Mit Gipsschiene am linken Arm schoss der linke Verteidiger im Eröffnungsspiel in seinem Münchner Heimstadion gegen Costa Rica den deutschen Führungstreffer, der das Sommermärchen begründete, er nennt es heute „das Tor meines Lebens“. Oft getroffen hat der lange Jahre weltbeste Außenverteidiger nicht, in 112 Spielen der Champions League kein einziges Mal. Aber sonst kannte sein Spiel keine Schwächen, noch nicht einmal im Kopfball trotz nur 1,70 Metern von den Fußsohlen bis zum Scheitel, erst Recht nicht beim Timing im Zweikampf, schon gar nicht im Gefühl für den freien Raum, das mitsamt seiner Technik dem Passspiel zur Perfektion verhalf.
Sein einstiger Trainer Jupp Heynckes bezeichnete den ehemaligen Musterschüler unlängst als „Präzisionsmaschine“. Pep Guardiola, der Perfektionist, der Lahm, dem Perfektionisten, noch einmal zu ganz neuen, viel tieferen Erkenntnissen über das komplizierte Spiel verhalf, nannte ihn den „intelligentesten Spieler, den ich je trainiert habe“. Lahm gab das Kompliment so ähnlich nur allzu gern und überzeugend zurück. Unter Guardiola durfte er in ein und derselben Minute Außenverteidiger und zentraler Mittelfeldspieler sein. So etwas hatte die Fußballwelt noch nie gesehen.
Zeit seiner Karriere, und das macht seine sportliche Leistung noch anerkennenswerter, hat es der ausgesprochen faire Sportsmann nicht nötig gehabt, sich vor Schiedsrichtern aufzublasen, bewusst Foul zu spielen, etwa, um Zeichen zu setzen, oder sich auf anderen Wegen profane Vorteile zu verschaffen. Auch deshalb gehörte er zu den Lieblingsspielern von Bundestrainer Joachim Löw, der nur einmal ernsthaft verstimmt war: Da nämlich, als sein Mannschaftskapitän 2011 das biografische Werk „Der feine Unterschied“ veröffentlichte und damit jede Menge Ärger verursachte. Auch bei Löw, der es als Verstoß gegen die ungeschriebenen Regeln der Branche verstand, dass sein Vorzeigespieler Trainingsmethoden und Führungsstil des ehemaligen Teamchef der Nationalmannschaft, Rudi Völler, als Steinzeitmethoden würdigte. Mittlerweile weiß Löw: Lahm musste das so unbequem und unbeugsam beschreiben, um den tiefgreifenden Wandel zum Guten im deutschen Fußball kenntlich zu machen. Sonst hätte es niemand verstanden.
Der kleine Rumtreiber hat es stets mit erstaunlicher Gelassenheit und innerer Ruhe ausgehalten, Ärger zu machen. Auch damals, im Jahr 2009, als er die Bayern in einem nicht mit seinem Arbeitgeber abgestimmten Interview schalt, keinen rechten Plan zu haben. Die Vorgesetzten Hoeneß und Rummenigge waren sauer, es gab böse Worte und eine saftige Geldstrafe, die der Spieler ungerührt überwies. Aber alle, auch die beiden Patriarchen, wussten bald: Der Junge hat recht. Sein Standing in Klub und Öffentlichkeit wurde fortan noch größer. Da hatte einer nicht um seiner Selbst den Kopf weit aus dem Fenster in den Wind gehalten, sondern mit Blick auf das große Ganze.
Philipp Lahm gerierte sich gewiss nie als Alphatier, aber in seinem Führungsanspruch konnte er dennoch gnadenlos sein. Michael Ballack, der Inbegriff des Alphatiers, hat das erfahren müssen als Kapitän außer Dienst bei der Weltmeisterschaft im Sommer 2010. Ballack war vor Turnierbeginn zusammengetreten worden von Kevin-Prince Boateng im englischen Pokalfinale. Der vermeintlich unersetzliche Anführer fehlte somit in Südafrika, und es dauerte keine vier Wochen, ehe Philipp Lahm, der Interimskapitän, im Teamhotel in der Nähe von Pretoria unverblümt zum Ausdruck brachte, er gedenke nicht, die Binde freiwillig wieder an Ballack zurückzugeben. Die mediale Aufregung war weitaus größer als bei Lahm selbst, und so, wie er es wollte, kam es dann auch. So ist es eigentlich immer gekommen in seiner Karriere – mal ausgenommen, dass das letzte Spiel in Cardiff oder mindestens in Berlin geplant war.
Lahm hat die Zeitpunkte seiner Positionsentscheidungen nicht nur auf dem Fußballplatz stets präzise gewählt. Schon am Morgen nach dem erfolgreichen WM-Finale teilte er Bundestrainer Löw mit, seine internationale Laufbahn sei nun beendet, und zwar unwiderruflich. Löw wusste sogleich: Da gibt es kein Fragezeichen, keinen Raum für Überredungskünste, nicht bei Philipp Lahm. Und er wusste auch, dass sich diese Leerstelle nur verdammt schwierig würde füllen lassen. Joshua Kimmich könnte das gelingen, für Deutschland und bei den Bayern. Kimmich, elf Jahre jünger, ähnelt dem Kopfmenschen Lahm, nicht nur in Statur und Spielweise, und er ist jetzt schon torgefährlicher.
Philipp Lahm will sich fortan als Jungunternehmer intensiver seinen Firmen widmen. An drei Unternehmen besitzt er bereits Anteile. Wird er zurückkehren zu den Bayern, mit denen er sich nicht auf einen Anschlussvertrag als Sportvorstand einigen konnte? Oder findet er eine Zukunft abseits des Profifußballs, wo er in 15 Jahren eine tiefe Spur hinterlassen hat? Eine Spur, die am Ende auch politisch sichtbar war. „Deutschland“, sagt er, „darf nicht rechts werden. Wir haben jahrelang dafür gearbeitet, dass Deutschland ein weltoffenes Land geworden ist und sollten alles dafür tun, dass es auch so bleibt.“ Philipp Lahm wird fehlen. Nicht nur auf dem Platz.