Alles neu im Fluss

Wie die junge deutsche Fußball-Nationalmannschaft Widerstände überwindet und sich dabei sogar selbst überrascht
Um die Amsterdamer Fußballarena herum haben sich über die 23 Jahre, seit sie eröffnet wurde, einige verlockende Amüsierangebote angesammelt. Es war nicht mehr arg viel los in der Nacht zum Dienstag, aber es gab überall noch Menschen in oranger Kleidung, die feierten, als gäbe es kein Morgen mehr. Es war unschwer auszumalen, was los gewesen wäre, wenn die niederländischen zuvor die deutschen Fußballspieler besiegt hätten.
Hatten sie aber nicht. Man kann das als Überraschung beschreiben, oder vielleicht sogar als Sensation. Denn dass diese deutsche Mannschaft in ihrem - vom zuletzt weniger lässig als gewohnt dahergekommenen - Bundestrainer beschriebenen „Findungsprozess“ derart selbstbewusst Räuber und Gendarm mit den Nachbarn spielen würde, war allgemein nicht erwartet worden. Außer natürlich von Joachim Löw.
Nur ein Konter reicht aus
Die Psychologie des Spiels hätte, würde Fußball den Gesetzmäßigkeiten der Logik folgen, am Ende einen Sieg der Gastgeber entwickeln müssen. Denn kein Zweifel: Wer, wie Holland, einen 0:2-Pausenrückstand bald darauf eliminiert, noch dazu daheim, hat sich damit den Flow als Verstärkung geholt. Aber diese Verstärkung reichte nicht. Stattdessen gab es den einen einzigen deutschen Konter in der 90. Minute der zweiten Halbzeit, der genug Kraft und Finesse erzeugte, um chancenreich in den gegnerischen Strafraum zu gelangen. Eine einzige fließende Bewegung: Der eingewechselte Ilkay Gündogan auf den eingewechselten Marco Reus, der präzise in den Laufweg von Nico Schulz, dessen Bewegungsdrang und Mut als linker Verteidiger ihn selbst zu diesem späten Zeitpunkt in zentrale Gefilde geführt hatte. Schuss mit dem schwächeren rechten Fuß. Tor. 3:2. Sieg. Genius Gündogan erinnerte sich danach so: „Marco hat einen super Laufweg gemacht. Das kenne ich ja noch ein Stück weit von der BVB-Zeit. Ich brauchte ihn nur noch reinlegen. Dann haben Marco und Nico den Rest erledigt und den Sieg eingetütet.“
Das junge deutsche Team spielte und kämpfte in Amsterdam wie eine Mannschaft im eigentlichen Sinne. Sogar Toni Kroos warf sich, als es Spitz auf Knopf stand, selbstlos in gegnerische Schüsse, bei denen er früher kaum ein Bein gehoben hätte. Hinterher erinnerte sich der 29-Jährige in einem bei ihm seltenen Anflug von purer Begeisterung noch lieber an die erste Halbzeit: „Da haben wir Fußball gespielt, wie es kaum besser geht.“
Es sah verdächtig danach aus, dass sich in der Stunde des größten Gegendrucks ein Zusammengehörigkeitsgefühl mit Perspektive entwickelt hat. Dem Bundestrainer, äußerlich unbeeindruckt von der Aufregung, war das nur Recht: „Auch dieses Auf und Ab, das die Mannschaft durchleben musste, ist wichtig für die Erfahrung.“ Joshua Kimmich, der Mittler zwischen den Welten des alten und des neuen Deutschland, fasste die kollektive Gefühlswelt besonders klug zusammen: „Das 3:2 ist wichtiger für uns, als wenn wir es 3:0 gewonnen hätten. Das Emotionale ist jetzt größer.“ Man habe „gesehen, dass eine Mentalität in der Truppe steckt. Dass wir so zurückgeschlagen haben, ist extrem wichtig für die Stimmung, das Selbstvertrauen und das ganze Drumherum.“
Das „ganze Drumherum“ war nach dem trübsinnigen letzten Jahr darauf ausgerichtet gewesen, dass es nichts Großartiges werden würde mir den Deutschen in der Johan-Cruyff-Arena. Möglich, dass die Gastgeber eine Prise zu viel Hochmut mit in die Partie brachten. Und erstaunlich, dass der prall gefüllte Rucksack der Vergangenheit dieser deutschen Mannschaft mit Zukunft nicht zu schwer auf den Schultern lag. Hinten arbeiteten Niklas Süle, Antonio Rüdiger und Matthias Ginter zumeist mindestens rechtschaffen. Vorne setzten Leroy Sané und Serge Gnabry, unverbraucht von den Demütigungen des missratenen Russland-Sommertrips 2018, mit ihren Tiefenläufen und Toren Glanzpunkte. Ihre Vorstellung mündete nicht bloß in Tempo und Ästhetik, sondern war zudem geprägt von einer Hartnäckigkeit und Widerspenstigkeit im Offensivzweikampf, die die niederländischen Defensivleute sichtbar erstaunte.
Stolz auf die Leistung
Sané sprach später von einem „Sieg auch für das Selbstvertrauen nach allem, was so ablief“. Der 23-Jährige bestätigte in etwa die Einschätzung seines Klubtrainers Pep Guardiola, er sei „der beste Spieler der Welt, wenn es um Läufe in die Tiefe geht“. Hinzu kam: Der zumindest sportlich gereifte Irrwisch ging auch in seinem früher zum Leidwesen seiner Vorgesetzten oft vernachlässigten Rückwärtsverhalten emsig in die Tiefe und in die Breite.
Der gleichaltrige Gnabry, der die WM 2018 wegen eines Muskelbündelrisses am Schambein verpasst hatte, stand Sané in dessen unzähmbarem Fleiß nicht nach. Er fand „die erste Hälfte sensationell von uns“. Die Art und Weise, wie Gnabry vor seinem Kunstschuss zum 2:0 den Hünen Virgil van Dijk abgeschüttelt hatte, sollte er sich auf seiner Festplatte konservieren: „Ich hab es davor versucht außen vorbeizugehen, da hat mich van Dijk abgekocht. Dann gehe ich innen vorbei. Dass der so in den Winkel geht, ist natürlich traumhaft.“
Hinterher war ihnen allen neben der Erleichterung vor allem der Stolz über die eigene Wehrhaftigkeit anzumerken. Denn gerade dann, als sie Gefahr gelaufen waren, sich von den wütenden Niederländern ihre Struktur und Ordnung zerstören zu lassen, entwickelten sie trotz ihrer relativen Unerfahrenheit Abwehrkräfte, die man ihnen kaum zugetraut hätte. „Das tut der Seele und der Moral gut“, sagte Oliver Bierhoff. Dem als DFB-Direktor und Teammanager in Personalunion fürs große Ganze hauptverantwortlichen Mann war das ganze Leiden der vergangenen Monate zuletzt fast mitleidsvoll anzusehen gewesen. Jetzt schien er wie von der Last von Mühlsteinen befreit. „Der Sieg in dieser Drucksituation hilft, um die kommenden Spiele mit größerer innerer Ruhe und Sicherheit anzugehen“, so Bierhoff. „Sowas“, ergänzte Leon Goretzka, „schweißt zusammen, sowas hilft auch bei einer Entwicklung“. Eine Entwicklung, die man bis Sonntagnachmittag noch in schlüpfrigen Sandalen gewähnt hatte, die jedoch offenbar bereits in schlank geschnittenen Wanderstiefeln steckt.