Marius Wolf, der Spätberufene

Marius Wolf hat einen besonders beschwerlichen Weg hinter sich, um mit 27 Jahren noch deutscher Nationalspieler zu werden.
Gemeinsamkeit zu bezeugen, ist nie verkehrt. Die deutsche A-Nationalmannschaft und die U21-Auswahl haben sich am Mittwochmorgen zusammen für ein Gruppenbild aufgestellt. Schließlich hatten die Delegationen am Abend zuvor auch im Teamhotel nahe der Frankfurter Messe gemeinsam gespeist. Sportdirektor Rudi Völler, der sich in vielerlei Hinsicht im deutschen Fußball als Brückenbauer versteht, grinste breit. Ziemlich weit rechts draußen hatte sich Marius Wolf postiert, was mindestens genauso symbolträchtig wie die Vermischung zwischen Aushängeschild und Zulieferer wirkte.
Denn der 27-Jährige ist als rechter Schienenspieler bei Borussia Dortmund auf der Überholspur unterwegs; und der einzige aus dem halben Dutzend Neulingen, der nicht aus der U21 gefördert wurde. „Momentan ist es geil, in der Mannschaft – das macht richtig Spaß“, sagte Wolf in der Pressekonferenz zu seinem Formhoch. „Ich versuche immer, 100 Prozent zu geben.“ Die „allgemein richtige Mentalität“ wolle er keinem absprechen, „aber bei dem einen oder anderen Spieler sieht man das mehr.“ Vor allem bei ihm, dem Aufsteiger mit ganz langem Anlauf.
Der Mann mit dem streng zurückgekämmten Haaren ist der klassische Spätstarter, der sich über viele Umwege nach oben gekämpft hat und nun doch etwas länger gebraucht hat, um die Prophezeiung von Kevin-Prince Boateng wahr werden zu lassen. Der gute Kumpel hatte schon vor fünf Jahren orakelt: „Wenn Marius nicht Nationalspieler wird, höre ich auf mit Fußball.“ Erst kürzlich habe er wieder mit dem „Prinz“ telefoniert, verriet Wolf am Mittwoch und scherzte: „Er ist glücklich, dass er noch ein Jahr spielen darf.“
Ihm selbst ist nichts geschenkt worden, der gebürtige Oberfranke musste Niederschläge verdauen, mit Ablehnung klarkommen, Enttäuschungen verarbeiten. Das Stehaufmännchen hat in keinen hochrangigen Jugendauswahlen gespielt. Seine Karriere wäre schon fast vorbei gewesen, ehe sie begann. In der U17 des 1.FC Nürnberg sortierte ihn einst Trainer Tobias Zölle aus.
Zu langsam sei der Wolf. In der internen Sprintwertung der B-Jugend war der hagere Kerl tatsächlich nur auf dem vorletzten Rang gekommen. Für den rechten Läufer, damals körperlich noch nicht so weit und mit Wachstumsproblemen belegt, war das Ansporn. Wolf zog weiter, stellte sich beim FC Ingolstadt vor, A-Jugend, Bayernliga, eine Woche Probetraining. Dann die Nachricht: keine Verwendung. Abgelehnt.
So erging es ihm auch einige Jahre später bei Hannover 96, wo er über den Umweg 1860 München gelandet war. Nach zwei Bundesligaspielen unter Thomas Schaaf wurde er von Nachfolger Daniel Stendel aus dem Kader geworfen und in die zweite Mannschaft verbannt, Regionalliga Nord. Dazu gesundheitliche Probleme, Pfeiffersches Drüsenfieber. „Ich war sportlich weg vom Fenster, mental am Boden zerstört. Ich habe an mir gezweifelt. Die Zeit war nicht einfach.“ Für den Zuspruch der Familie in dieser Phase ist er heute noch dankbar.
Doch das ist auch das Besondere an seiner Lebensgeschichte: Irgendwann fügt sich das Schicksal, weil er nicht nachgibt und nicht nachlässt, sondern immer weitermacht. Und vielleicht auch der Zufall mal eine Rolle spielt. Wie im Winter 2017. Wolf, tief frustriert in Hannover, war mit dem VfL Bochum einig, zweite Liga, immerhin. Er checkte schon im Hotel ein, anderntags war die Vertragsunterschrift geplant. Da kam der Anruf von Bruno Hübner Sportdirektor von Eintracht Frankfurt. Wolf checkte wieder aus, fuhr nach Frankfurt. Seine große Chance.
Ermöglicht hatten es Bruno Hübners Söhne, der eine, Florian, Wolfs Mitspieler in Hannover, der andere, Christopher, im Beratergeschäft. „Papa, den Wolf musst Du holen“, flöteten sie dem Manager ins Ohr. Es war die sportliche Auferstehung des Marius Wolf. Er ist deshalb immer gerne in der Mainmetropole, „ich habe noch den einen oder anderen privaten Kontakt.“
Unter Niko Kovac lernte er in Frankfurt ein neues Leben und eine neue Form des Denkens kennen, unter dem strengen Kroaten wurde er gefördert, Stammspieler und holte den DFB-Pokal 2018, den erst sich auf die Wade tätowieren ließ – und weiterzog zu Borussia Dortmund zog. Für läppische fünf Millionen Euro. Frankfurt aber wurde für Wolf zum Wendepunkt der Karriere und auch seines Lebens, denn bei der Eintracht lernte er Boateng kennen. Man freundete sich schnell an; der (gar nicht so) böse Bub übernahm die Rolle der Vaterfigur, der den ihn anhimmelnden Jungprofi an die Hand nahm. Der schillernde Star führte Wolf in eine neue Welt ein, in die der coolen Rapper, in der es auch mal etwas verrucht werden kann. Inzwischen gehört Gangster-Rapper Capital Bra zu seinen Kumpels. Marius Wolf, ein gutgläubiger Kerl, fühlt sich wohl in der Glitzerwelt, er genießt das Rampenlicht, er findet es schon cool, selbst ein Star zu sein. „Marius hat eine Faszination für das wilde Leben“, sagt der renommierte Buchautor Ronald Reng, der Wolf und zwei weitere Talente für sein bemerkenswertes Werk „Der große Traum“ über Jahre hinweg verfolgt und ihre Geschichte aufgeschrieben hat. Nur einer von ihnen hat es gepackt: Marius Wolf.
Der Fußballspieler Wolf hat mit dem Privatmenschen Wolf nichts gemein. Ist der Lebensstil eher ausschweifend, so ist sein Arbeitsethos das genaue Gegenteil. Wolf ist eine Maschine, arbeitet wie ein Besessener an seiner Fitness und seinem Körper, hat ein eigenes Ärzteteam um sich geschart und arbeitet eng mit dem früheren Hoffenheimer Athletiktrainer Yannick Obenauer zusammen. Wolf ist ein Musterprofi. Und hat über Jahre hinweg seine Sprintkraft trainiert, bringt es auf einen Topspeed von 34,9 Stundenkilometern. Langsam geht anders.
Im Training wirkte der Novize dieser Tage enorm selbstbewusst, überzeugte mit seinem Tatendrang auf der rechten Außenbahn; dort, wo er seit einigen Wochen kontinuierlich seine Stärken entfaltet, soll er sich auch im Testspiel gegen Peru (Samstag 20.45 Uhr/ZDF) beweisen. Bundestrainer Hansi Flick sieht in ihm und dem zurückgeholten Emre Can zwei Charaktere, „die dafür stehen, wo Borussia Dortmund im Moment steht.“ Wolf sei „defensiv eine Stütze, sein Wille, sich offensiv einzuschalten, aber auch zu verteidigen, ist groß.“ Ein ehrlicher Arbeiter, bei dem der Chef ziemlich genau weiß, was er bekommt. Zuverlässiges Handwerk eben. „Er hat mir schon immer gefallen“, sagte Can zuletzt über Wolf. „Er hat immer Gas gegeben, sein Ding gemacht. Er kann ein wichtiger Spieler in der Nationalmannschaft werden.“
Tatsächlich könnte dem Unangepassten zugute kommen, dass auf dieser Problemposition die Karten neu gemischt werden, weil Flick hier während der vermasselten WM in Katar wild rotierte: Gegen Japan (1:2) spielte Niklas Süle, gegen Spanien (1:1) begann Thilo Kehrer, gegen Costa Rica dann sogar Joshua Kimmich. Kontinuität geht anders.
Vielleicht heißt die Dauerlösung ja Marius Wolf. Hätte er bis vor Kurzem selbst nicht gedacht.