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Der lange Weg zurück

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Von: Jan Christian Müller

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Toni Kroos und Spielkameraden feiern im Juli 2014 den WM-Titel in Rio de Janeiro.
Toni Kroos und Spielkameraden feiern im Juli 2014 den WM-Titel in Rio de Janeiro. © Imago Images

Von einer WM-titelreifen Form und Formation ist das DFB-Team von Bundestrainer Joachim Löw vor dem Test gegen die Gauchos noch ein gutes Stück entfernt.

Wenn es sich ergeben würde, könnten die nominierten deutschen Nationalspieler unweit ihres schönen Mannschaftshotels beim Lauftreff Bittermark im Dortmunder Süden mitmachen. Es gibt dort einen kleinen Wald mit einem Parkplatz mittendrin, auf dem auch der voluminöse DFB-Omnibus Platz fände. Aber fürs Lauftreff Bittermark wird keine Zeit bleiben. Vor der Partie zu Testzwecken am Mittwoch (20.45 Uhr/RTL) gegen Argentinien schaffen sie miteinander gerade mal ein Training (am gestrigen Montag) auf dem Übungsgelände von Borussia Dortmund in Brackel und ein weiteres am Dienstag in der Arena, Es folgen noch zwei weitere Einheiten am Freitag in Dortmund und am Samstag in Tallin, ehe am Sonntagabend (20.45 Uhr/RTL) das EM-Qualifikationsspiel gegen Fußballgnom Estland stattfindet.

Beim DFB sind sie auf dem langen Weg zurück routiniert zuversichtlich, dass es klappen wird mit der Qualifikation für die Endrunde, das Vorbereitungscamp im österreichischen Seefeld ist deshalb schon gebucht, die Wahrscheinlichkeit ist tatsächlich groß, seit sich die Truppe von Joachim Löw neulich in Belfast zu einem 2:0 gegen Nordirland quälte und dabei erst in der zweiten Halbzeit die bessere Mannschaft stellte. Ein paar Tage zuvor war sie in Hamburg beim 2:4 gegen die Niederlande über die volle Distanz hinweg deutlich schwächer als der technisch, taktisch und gedanklich überlegene Gegner aus dem Nachbarland gewesen.

Die Mühen der Ebene, in welche Löw das DFB-Team 2018 unverhofft manövrierte, sind noch längst nicht überwunden. Es war ein rasanter Absturz vom Weltmeister 2014 zu (auch von Trainern und Spielern selbst) gefühlten Totalversagern 2018. Ein bisschen schließt sich der Kreis an diesem Mittwoch. Denn der Gegner heißt Argentinien, also genauso wie einst im Juli, als die deutsche Mannschaft sich die „Gauchos“ unter Anführerschaft von Bastian Schweinsteiger durch das Jahrhunderttor von Mario Götze untertan machte.

Ohne diese Errungenschaft, so viel darf getrost vermutet werden, wäre Ex-Weltmeistertrainer Joachim Löw nicht mehr aktueller Bundes-Jogi, sondern möglicherweise in München, London, Paris oder Hoffenheim vertragstreu in der Coachingzone unterwegs. Der 59-Jährige durfte seine Lebenslieblingsaufgabe aber auch nach dem Aus von Kasan gegen Südkorea behalten, das sein Team auf dem letzten Vorrundenplatz zurückließ. Eigentlich ein hundertprozentiger Kündigungsgrund, wäre man nicht, siehe oben, als Weltmeistertrainer ausgeschieden und hätte sich so eine Art Unkündbarkeit erarbeitet.

Die Frage, die sich aktuell stellt, lautet nun sehr konkret: Wird Joachim Löw den Umbruch, den er im vergangenen Herbst einleitete und in diesem Frühjahr mit dem dreifachen „Abschied von München“ komplettierte, erfolgreich bewerkstelligen? Es gibt Skeptiker, die ihm das nicht mehr zutrauen. Zu viel sei verloren gegangen von der Weltmeistertrainer-Aura, als dass Löw noch mal die notwendige Überzeugungskraft gewinnen könnte, die jungen Spieler für sich und seine Sache einzunehmen.

Vermutlich wäre alles anders gekommen im Sommer 2018, wenn die „Erdogan-Affäre“ nicht gewesen wäre. Der Schlüsselspieler Mesut Özil war unter diesen Umständen psychisch nicht in der Verfassung, ein WM-Endturnier zu spielen, und auch Ilkay Gündogan, der damals durchaus eine bedeutende Rolle hätte übernehmen können, präsentierte sich als Nervenbündel.

Demselben Ilkay Gündogan für die Zukunft eine zentrale Rolle zu übertragen, hat sich Löw nicht getraut. Das ist deshalb nachvollziehbar, weil der Mittelfeldspieler von Manchester City aufgrund seiner Verletzungshistorie nicht als zuverlässiger Passgeber angesehen werden kann. Löw entschied sich deshalb, dem bei der WM 2018 mindestens genauso wie Hummels, Müller, Boateng. Khedira, Gomez enttäuschenden Toni Kroos weiterhin einen Stammplatz im Kader zu reservieren. Andernfalls hätte das DFB-Team Gefahr laufen können, ein spielerisches Vakuum im zentralen Mittelfeld wegorganisieren zu müssen, wenngleich Joshua Kimmich dort inzwischen eine Leerstelle stabil besetzt hat.

Kroos fehlt nun gegen Argentinien und in Estland angeschlagen. Das bringt die nächste Chance für Gündogan, der die WM 2014 und damit auch das Finale gegen Argentinien wegen einer schweren Rückenverletzung verpasste (und das letzte Spiel in Belfast wegen einer Erkältung). Es gibt unter Fachleuten durchaus die Debatte, ob Gündogan, auch schon 28, nicht besser gemeinsam mit Kimmich als Taktgeber des neuen, schnelleren, steileren deutschen Spiels passt als Kroos, der den Pass in die Tiefe seltener zu spielen pflegt. Oder ob es nicht unbedingt erstrebenswert ist, Kimmich, Kroos und Gündogan gleichzeitig auf den Platz zu bekommen, was aber zwingend bedeuten würde, die gegen die Niederlande erfolglos praktizierte Fünferkette mit drei hünenhaften Verteidigern in der Mitte zugunsten eines Mittelfeldspielers aufzugeben. Beim 2:4 in Hamburg war sehr sichtbar, dass im zentralen Mittelfeld einer fehlte, wiewohl gerade Kroos ein starkes Spiel absolvierte. Die Niederländer spielten in Überzahl einfach um Kroos und Kimmich herum.

Bei der WM 2014 hat Löw auch eine Verletzung des rechten Verteidigers Shkodran Mustafi gebraucht, um zu seinem Glück gezwungen zu werden und Philipp Lahm zurück nach rechts zu versetzen. Fortan spielte Deutschland mit einem Dreier-Mittelfeld vor einer Viererkette. Namentlich: Kroos, Schweinsteiger, Khedira, im Endspiel mit Christoph Kramer anstatt des angeschlagenen Khedira. Schweinsteiger, Kroos, Khedira könnten zukünftig Kroos, Kimmich, Gündogan heißen und dem deutschen Spiel Passstabilität, Rhythmus und Intuition verleihen. Und Mut zum Tempo, damit die Spitzen Gnabry, Sané und Werner nicht warten müssen, bis die gegnerischen Abwehrreihen ein Dickicht aus Beinen aufgebaut haben.

Und dann gibt es da noch eine Personalie, die einer Lösung harrt: Sie heißt Kai Havertz, ist hochtalentiert und ist 20 Jahre alt. Löw sagte zuletzt einigermaßen lapidar, man werde für Havertz schon noch was finden. Das hörte sich ein bisschen so an wie weiland Otto Rehhagel, der Spielern aus dem eigenen Stall nicht vor Vollendung des 25. Lebenjahres einen Stammplatz garantierte. Löw aber sollte nicht nur Tempo ins deutsche Spiel bekommen, sondern auch in die Suche nach einem geeigneten Plätzchen für Havertz, wohlgemerkt: auf dem Spielfeld, nicht auf der Bank.

Mit Argentinien haben die Deutschen noch eine Testspiel-Rechnung offen. Kaum zwei Monate nach dem WM-Triumph gab es in Düsseldorf ein 2:4. Tat damals viel weniger weh als das gleiche Ergebnis neulich gegen Holland.

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