Antonio Rüdiger: König ohne Hofstaat

Stopper Antonio Rüdiger ist derzeit die einzige Instanz in der deutschen Defensive, die Souveränität ausstrahlt.
Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft hat gerade ein Problem: Es stimmt vorne nicht und hinten nicht. Bundestrainer Hansi Flick sieht folgerichtig öfter mal so aus, als habe er gerade zwangsweise ein ganzes Glas saure Gurken vertilgen müssen. Zum Beispiel am Montag noch vor Ort in Budapest, als er im Rückblick auf das 1:1 in der Nations League in Ungarn und vor der Partie am Dienstagabend (20.45 Uhr/ZDF) in Mönchengladbach gegen Italien einräumte: „Ich hatte gedacht, dass wir ein bisschen weiter sind.“ Und hinzufügte: „Ich finde die vier Unentschieden in den letzten vier Spielen einfach nicht gut, um es mal milde auszudrücken.“ Weniger milde formuliert: Flick findet das ausgesprochen doof.
Die mangelnde Zielstrebigkeit nach vorn ist ihm dabei ebenso ein Ärgernis wie manch klaffende Lücke nach hinten. „Wir haben in der Defensive das eine oder andere zugelassen, was nicht sein darf“, unkt der Bundes-Hansi und setzt dabei wieder dieses Saure-Gurken-Gesicht auf.
Weil in Budapest außen von Thilo Kehrer und David Raum nicht stabil genug verteidigt wurde, flogen die ungarischen Flanken von links und rechts den Innenverteidigern Nico Schlotterbeck und Niklas Süle nur so um die Ohren. Die beiden verloren im Getümmel mitunter die Übersicht - die Manuel Neuer aber behielt. Am Montag in der Pressekonferenz präsentierte sich der Torwart indes außer Form. Fast jede Antwort blieb im Ungefähren. Passend zum deutschen Spiel zuletzt. Zum Glück fürs DFB-Team ist der Kapitän auf dem Platz gerade viel besser.
Ein weiterer Guter dürfte zurückkehren. Gegen Italien wird der zuletzt geschonte Antonio Rüdiger ziemlich sicher wieder im Abwehrzentrum platziert werden. Der 29-Jährige gilt als Instanz in der Defensive. Rüdiger hat sich von einem unsicheren Kantonisten, der bei seinen vormaligen Arbeitgebern VfB Stuttgart und AS Rom sechs Platzverweise fast so ausdauernd wie Paninibildchen sammelte, zu einem stabilisierenden Faktor entwickelt, der Entgleisungen oder lässliche Fouls tunlichst vermeidet. In fünf Jahren beim FC Chelsea kam kein einzige Rote oder Gelb-Rote Karte hinzu.
Stattdessen derart viele Klasseleistungen, die dem Baum von einem Mann erstens eine Berufung ins Premier League „Team of the year“ bescherten und zweitens einen fett dotierten Vierjahresvertrag bei Champions-League-Sieger Real Madrid einbrachten. Wie sich ein Erfolg in der Königsklasse anfühlt, weiß Rüdiger: Er kam allein nach London und ging hochdekoriert mit Titeln in der Champions League, der Europa League und dem FA-Cup sowie mit Frau und zwei Kindern.
Das aktuelle Stadionmagazin des DFB hat dem Abwehrspieler eine große Story gewidmet, überschrieben mit der schon auf den neuen Arbeitgeber vorausschauenden Schlagzeile: „Rey Rüdiger“ - König Rüdiger. Heldengeschichten könnten größer nicht geschrieben werden. Indes: Im Nationalteam hat der gleichermaßen athletische wie inzwischen auch technisch recht versierte Verteidiger derart herrschaftlichen Einfluss aufs Geschehen noch nicht stabil verbreiten können. Bei der verpatzten EM 2021 gehörte er zum Stammpersonal, ohne eine Spur zu hinterlassen. Ein König ohne Hofstaat.
Dabei war sein Reifeprozess zuvor unter Thomas Tuchel schon unübersehbar gewesen. Von Tuchel-Vorgänger Frank Lampard auf die Tribüne verbannte („Da war ich wirklich am Boden“), reaktivierte der deutsche Trainer Rüdiger umgehend als linken Stützpfeiler der Dreierkette und verschickte zum Abschied ein Füllhorn an Lob: „Toni war ein absoluter Leader, der top performt hat.“
Das sieht Hansi Flick ganz ähnlich: „Toni hat eine fantastische Entwicklung gemacht.“ Und dann gibt der Bundestrainer Einblick in die vom DFB minutiös geführte Statistik: „Toni hat in dieser Saison 6000 Minuten gespielt, mehr als alle anderen.“ Zudem lobt Flick Zweikampfverhalten, Passsicherheit und Tempo des Abwehrchefs. Der veröffentlichte zum Abschied aus London einen ellenlangen Brief an die Fans mit der Anrede „Dear Chelsea“, der in dieser Form der Eloquenz nie und nimmer aus eigener Feder stammen kann. Aber derlei Performance in eigener Sache - unterstützt von Leuten, die sich damit auskennen - gehört halt inzwischen zur Markenbildung außerhalb der Kreidelinien.
Dass er nicht zu den ganz großen Rhetorikern gehört, daraus macht Antonio Rüdiger ja auch gar keinen Hehl. Er sei „nicht der Spieler, der große Reden in der Kabine schwingt“, sagt er, vergisst aber nicht, das hinzuzufügen, was sich nach der Autorisierung dann so gediegen anhört: „Auf dem Platz ist es mir immer wichtig, auch kommunikativ sehr aktiv zu sein und voranzugehen. Da sehe ich mich absolut in der Pflicht.“
Sowohl Rüdiger als auch Neuer plädieren dafür, dass die Abwehr sich mit Blick auf die WM in Katar dringend einspielen sollte. „Stabile Abwehrketten funktionieren vor allem über Routinen“, lässt sich Rüdiger zitieren. „Es wäre hilfreich, wenn wir zur WM viel gemeinsam auf dem Platz gestanden hätten“, ergänzt Neuer. Der Torwart dokumentiert damit auch recht konkret, wer seiner Meinung nach jetzt gegen Italien das Tor hüten sollte: Manuel Neuer natürlich.
Trotz der derzeit etwas dämmrigen Stimmung ums deutsche Team ist die Ausgangssituation gar nicht mal so hoffnungslos. Mit einem Sieg gegen Italien könnte sogar der erste Platz in der Gruppe 3 der Nations League Eliteliga Liga A erobert werden, ehe im September die abschließenden Spiele gegen Ungarn in Leipzig und in England auf dem Programm stehen. Ein Gruppensieg und damit die Qualifikation fürs Final Four-Turnier im nächsten Juni wäre für Hansi Flick deshalb besonders werthaltig, weil für Deutschland im Jahr 2023 als EM-Gastgeber 2024 sonst keine Pflichtspiele stattfinden würden. Guten Grund, sich noch einmal richtig anzustrengen.