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Tief verankerte Fußball-Begeisterung: Frankreich freut sich auf ein Freudenfest

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Torhüterin Sarah Bouhaddi (links) freut sich auf die WM.
Torhüterin Sarah Bouhaddi (links) freut sich auf die WM. © AFP

Die Fußball-WM der Frauen könnte eine richtige Mischung erfahren: nicht so überfrachtet wie 2011 in Deutschland, nicht so distanziert wie 2015 in Kanada.

Wer die deutsch-französische Seele ergründen will, ist bei Frederique Ingeborg Wohlers-Armas genau richtig. Die 56-Jährige muss selbst schmunzeln, dass pünktlich zur Frauen-WM in Frankreich (7. Juni bis 7. Juli) der Zeitpunkt gekommen ist, „dass ich genau eine Hälfte meines Lebens in Deutschland, die andere in Frankreich zugebracht habe“. Je 28 Jahre. Halbzeit sozusagen. Insofern trifft es sich gut, dass die in Bremerhaven geborene, aber mit einem Rumänen verheiratete und in Medoc in der Weingegend von Bordeaux lebende Wahl-Französin gerade als Verbindungsglied zur deutschen Delegation fungiert.

Fragen und Wünsche rund um die DFB-Frauen vor dem ersten Gruppenspiel gegen China (Samstag 15 Uhr/ARD) landen fortan an allen Spielorten bei ihr. Sie gehört zum lokalen Organisationskomitee (LOC) und kam zu dem WM-Job wie „die Jungfrau zum Kinde“: Ihre Tochter Lara arbeitet für die Koordination der Volunteers in Nizza, fürs deutsche Team wurde noch eine Betreuung gebraucht.  Wenn sie von Delegationsleiterin und DFB-Vizepräsidentin Hannelore Ratzeburg auf die nun vor dem Eröffnungsspiel des Gastgebers Frankreich gegen Südkorea (Freitag 21 Uhr/ZDF) im Pariser Prinzenpark auf ihre Erwartung zur Frauen-WM 2019 angesprochen wird, dann benutzt sie eine französische Redewendung: „effervescent“. Sprudelnd. Etwas Prickelndes soll es also werden. Wie eine Brausetablette, die aus einem Glas Wasser etwas Schmackhaftes macht. Denn sie glaubt: „Dieses Land, diese Menschen werden sich unglaublich viel Mühe geben.“

Slogan der Frauen-WM 2019: „Le moment de briller“

„Le moment de briller“ (der Moment zu glänzen) lautet der Slogan der achten Auflage. Es passt jedenfalls zu jenen Momenten, wenn Kinder bei der Ankunft der deutschen Fußballerinnen am Teamhotel mit ihren Fähnchen wedeln oder französische Grundschüler am Trainingsplatz nach Autogrammen rufen. Die deutschen Fußballerinnen gingen mit Stift in der Hand auf die andere Platzseite. Von solcher Volksnähe lebt der Frauenfußball. Es hilft, dass der Ausrichter jetzt keinen Hochsicherheitstrakt errichten muss wie bei noch unter dem Eindruck des Terrors veranstalteten Männer-EM 2016, als sich an jeder Straßenecke Polizisten mit Maschinenpistolen postieren. Das Frauen-Turnier könnte drei Jahre später der Kontrapunkt sein. Unbeschwerter. Und fröhlicher.

Für die Franzosen ist eine Verwurzelung vor Ort wichtig, um nachhaltige Effekte zu erzielen. Erst 140.000 Frauen und Mädchen spielen in der Grande Nation wirklich Fußball – da ist viel Luft nach oben. Weswegen beispielsweise Jean-Luc Gaudin, der Bürgermeister des 4400-Einwohner-Ortes Pont-Péan aus dem Department Ille-et-Vilaine, dem Großraum von Rennes, zur deutschen Trainingsstunde gekommen war. Der in den Ruhestand versetzte SNCF-Beamte stand im Sakko am Sportplatz – und war angetan von der Intensität, mit der die deutschen Spielerinnen trainierten. „Wenn solche Mannschaften zu uns kommen, hilft uns das. Fußball ist hier bisher eine sehr männliche Angelegenheit, jetzt könnte sich das ändern.“

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Monsieur Gaudin mag mit seinem zerzausten grauen Haar manche Klischees bedienen, aber ein zerstreuter Professor ist er mitnichten. Er möchte, dass diese Sportveranstaltung ein generelles Umdenken auslöst. Dabei denkt er weniger an die Politik, sondern an die Gesellschaft: „Wir müssen wieder mehr für die Gleichberechtigung tun. In Europa, aber auch in Frankreich: In den 70er, 80er Jahren waren wir bei diesem Thema schon viel weiter.“ Zeitungen, Radio und Fernsehen widmen sich der Frauen-WM ausführlichst. Schon die Kadernominierung der Équipe de France femininé wurde live übertragen. Gerade kam in einer Umfrage heraus, dass Wendie Renard, Amandine Henry und Eugenie Le Sommer schon jetzt bekannter sind als der bald für den FC Bayern spielende Weltmeister Benjamin Pavard vor seinem WM-Debüt vor einem Jahr. Wenn das kein Erfolg ist.

Die großen Stadien in Lyon und der Prinzenpark in Paris sind für die meisten Partien ausverkauft. Und weil das ganze Land teilhaben soll, sind Spielorte wie Le Havre, Reims oder Valenciennes im Norden, Grenoble oder Montpellier im Süden eingebunden. Wenn am Ende zu den 52 WM-Partien mehr als eine Million Besucher kämen, wäre das ein Statement für ein Event, das seinen emotionalen Höhepunkt in der Finalwoche in Lyon – Heimat des Champions-League-Siegers Olympique Lyon – erfahren soll. Sollte Titelverteidiger USA mit seinem speziellen Anhang dabei sein, ist ein finales Freudenfest am Zusammenfluss von Rhône und Saône garantiert.

Semifinale ist Frankreichs Minimalziel bei der Frauen-WM 2019

Natürlich wollen die Gastgeberinnen dann noch mitspielen. Verbandspräsident Noël Le Graët hat das Semifinale Minimalziel ausgegeben, Staatspräsident Emmanuel Macron erwartet noch mehr. „Ich will euch keinen Druck machen, aber bei einer Sache bin ich mir sicher. Solche Wettbewerbe gewinnt, wer keine Angst hat" richtete er nach seinem Besuch in Clairefontaine aus hatte. Und wie hatte Kapitänin Henry gesagt? „Ich habe gesehen, wie Hugo Lloris letzten Sommer in Moskau die Trophäe gehalten hat. Das Gefühl will ich auch erleben.“

Nationaltrainerin Corinne Diacre arbeitet mit ihrem Team seit der männlichen Vorlage mehr denn je in einem Spannungsfeld. Die 44-Jährige ist zunächst wie gemacht, um Frauen und Männer gleichermaßen mitzunehmen. Als erste Französin trainierte sie drei Jahren lang eine Männer-Profimannschaft, den Zweitligisten Clermont Foot. Die frühere Verteidigerin hat selbst eine WM und EM gespielt und weiß nur zu gut, dass Frankreich im weiblichen Segment noch nie etwas gewonnen hat.

Platz vier bei der WM 2011 in Deutschland war das Höchste der Gefühle. Am schmerzlichsten fühlte sich 2015 jene unnötige Niederlage im Elfmeterschießen gegen die DFB-Auswahl auf dem Kunstrasen von Montreal an, als die Französinnen im WM-Viertelfinale ihre haushohe Überlegenheit aus lauter Überheblichkeit verschenkten. „Es war so schmerzhaft, aber wir haben viel daraus gelernt. Wir wollen so etwas nicht wieder erleben“, erinnert sich Mittelfeldspielerin Henry.

Seitdem hat es im Ensemble einige Häutungen gegeben, die Verjüngung ist ein laufender Prozess. Aber ohne die Lyoner Stützen wie Torhüterin Sarah Bouhaddi (32 Jahre), Abwehrchefin Wendie Renard (28) oder Stürmerin Eugenie Le Sommer (30) geht es nicht. Niemand weiß indes, wie sie sich nun in extremen Drucksituationen verhält. Daher wäre es eigentlich besser, den Gastgeber nicht mit einer falschen Erwartungshaltung zu überladen.

Und 2011 nervte ja rückblickend ja doch ein bisschen die Penetranz, mit der Deutschlands Frauen zum „dritten Stern“ gepeitscht werden sollten. Mit Plakatierungen wie: „Dritte Plätze ist was für Männer“. Schlussendlich schieden sie bereits im Viertelfinale aus. 2015 in Kanada störte dann der Kunstrasen, mit dem der Weltverband Fifa auf der völlig falschen Bühne ein unnötiges Experiment veranstaltete. Und wenn in jenem Sommer in einer Sportsbar die Basketball-Finals mit Warriors-Wundermann Stephen Curry liefen, waren Fußballbegeisterte schon froh, wenn ein verwaister Fernseher für die Frauen-WM übrig blieb. Die weiten Entfernungen von Ottawa bis Vancouver schufen eine zusätzliche Distanz.

2019 in Frankreich könnte bessere Zutaten zusammenkommen: eine tief verankerte Fußball-Begeisterung; der erkennbare Wille, die sportlichen Leistungen von Frauen zu würdigen – und das berühmte Savoir-vivre. Damit würde zumindest ein schönes Fest herauskommen. Oder wird es sogar das, was Fifa-Präsident Gianni Infantino in Paris im Überschwang seiner Wiederwahl heraustrompetet hat? „In Frankreich wird die Welt die Explosion des Frauenfußballs erleben.“ Vielleicht reicht es schon, wenn es die nächsten Wochen einfach nur prickelt.

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