„Es gibt nur ein´ Rudi Völler“

Am Samstag tritt ein ganz Großer des deutschen Fußballs von der Bundesliga-Bühne ab. FR-Redakteur Jan Christian Müller erinnert sich an vier prägende Jahrzehnte
An diesem Samstag wird Rudi Völler zum letzten Mal als Geschäftsführer von Bayer Leverkusen auf der Tribüne sitzen und bestimmt auch ein-, zweimal über den Schiedsrichter schimpfen. Dann ist eine große Karriere vorbei. Anlass für unseren Redakteur Jan Christian Müller, sich sehr persönlich an ein paar Etappen zum Ruhm des einstigen Mittelstürmers, Teamchefs und Managers zu erinnern.
An einem Montag im Oktober 1983 steht Jörg Wontorra mit seinem Kameramann und dem Tontechniker in der Umkleidekabine der Fußballprofis des SV Werder Bremen. Mittendrin zwischen langen Holzbänken. Es riecht nach Schweiß, feuchten Klamotten und Seife. Unten in den Katakomben des alten Weserstadions ist es düster im Herbst 1983. Wontorra, damals Sportchef bei Radio Bremen, hat mich, den Praktikanten, mit zum geplanten Gespräch mit Rudi Völler genommen. „Den Rudi“, sagt Wontorra, „greifen wir uns. Der ist in Ordnung. Aber der Otto, da musst du aufpassen. Der ist schwierig.“
Die Mannschaft ist noch draußen beim Training. Völler kommt als Erster vom Platz, er ist ein bisschen angeschlagen von den vielen Tritten, die Stürmer damals aushalten müssen, ohne dass Schiedsrichter jemals Gelb gezückt hätten. Und er ist überrascht, dass Jörg Wontorra es tatsächlich wagt, mit seinem TV-Team die Kabine zu belegen, um mit ihm ein Interview zu führen. „Können Sie hier nicht machen, Herr Wontorra, das gibt Ärger mit dem Alten.“
Otto Rehhagel kriegt einen Wutanfall
Der „Alte“ heißt Otto Rehhagel und ist seinerzeit noch ziemlich jung: gerade 45 geworden. Just als Rudi Völler, 23, Wontorra, Kameramann, Tontechniker und mich aus der Kabine schieben will, dreht Rehhagel von links im engen Gang bei. Und begegnet uns mit einem Wutausbruch. Die Kabine, das Allerheiligste einer Profifußballmannschaft, durch den renitenten Reporter Jörg Wontorra okkupiert – da duckt sich auch Rudi Völler sicherheitshalber ein bisschen ab.
Das Interview gibt er trotzdem, es findet dann zwischen zwei Betonmauern der Südtribüne statt. Es müsste sich im Archiv vielleicht noch finden lassen. Völler ist ein schmaler Bursche, der ein bisschen nuschelt und die Haare hinten lang trägt. Und der Werder Bremen, da sind sich alle einig in der Stadt, mit seinem außergewöhnlichen Können, Ehrgeiz und Instinkt auf ein neues Niveau gehoben hat. Dabei wollte Rehhagel statt Völler eigentlich Dieter Schatzschneider holen. Aber der ging lieber zum Hamburger SV. Völler wäre fast mal bei Eintracht Frankfurt gelandet. Er hatte beim AS Rom im ersten Jahr nicht gut gespielt. Aber dann wollten die Römer ihn doch behalten.
Rudi Völler wird bei Waldemar Hartmann zum aktiven Vulkan
Am 6. September 2003 um kurz nach neun Uhr abends sitzt Rudi Völler in grauer Ballonseide nach einem der niveauärmsten Länderspiele in der Geschichte einer deutschen Fußball Nationalmannschaft im Bauch des Nationalstadions von Island in einem provisorischen TV-Studio vor ARD-Reporter Waldemar Hartmann und verliert die Contenance.
Völler ist seit drei Jahren DFB-Teamchef. Er hat sich nicht danach gedrängt. Aber weil der deutsche Fußball am Boden lag und man jemanden brauchte, der die Rumpelfüßler allein mit seiner Popularität zurück auf die Beine hebt, hat er sich überreden lassen. Hat noch nicht mal eine Fußballlehrerlizenz gebaut, ist deshalb kein Bundestrainer, sondern Teamchef, hütet die Spieler mehr mit Empathie als dass er sie mit Coaching entwickelt, und wird 2002 in Japan gleich Vize-Weltmeister mit einer mittelmäßig talentierten Truppe. Danach hat das ganze Land gesungen, es gebe nur „ein´ Rudi Völler“. Irgendwann hat er wissen lassen, es reiche jetzt damit. Er will nicht ständig abgefeiert werden wie verrückt.
Das 0:0 in Reykjavik wird zur Zeitenwende in der Wahrnehmung der lieben guten „Tante Käthe“. Der nette Rudi als garstiger Rudolf. Intern im Mikrokosmos von Mannschaft und Betreuern war das keine Überraschung. Aber das Bild des Hanauer Buben, zu dessen Repertoire auch die Vokabel „Scheißdreck“ gehört und der seine Wut selbst im öffentlich-rechtlichen Fernsehen nicht zähmen kann, kannte eine breite Öffentlichkeit bis dahin noch nicht. Er war doch längst zum Weltmann geworden: AS Rom, italienischer Pokalsieger, Olympique Marseille, erster Sieger der Champions League, Weltmeister 1990 mit Deutschland.
Wir Reporter haben seinen als „Eruption auf der Vulkaninsel“ berühmt gewordenen Ausbruch vor Ort erst gar nicht mitbekommen, da hatte Völler die Heimat längst in Unruhe versetzt. Noch in der Nacht meldet sich aus Deutschland aufgeregt die Zeitungsredaktion, Seite 3, Thema des Tages. Sie begehrt Antwort auf die Frage: Wer ist er wirklich, dieser Rudi Völler? Er war uns zuletzt etwas auf die Nerven gegangen mit seinem gebetsmühlenartigen „Es gibt keine Kleinen mehr“ im Berti-Vogts-Duktus. Aber er hat doch immer freundlich formuliert. Sein Augenzwinkern wirkte ansteckend. Und jetzt dieser Jähzorn. Vor einem Millionenpublikum.
DFB-Pressechef Harald Stenger hilft dann noch im Morgengrauen gern vor Ort am Telefon bei der Recherche. Der alte Haudegen kennt den Rudi schon, seit dieser noch Lehrling in der Industrie- und Handelskammer war und als Teenager für Kickers Offenbach Tore am Fließband produzierte, ehe Völler auszog in die große Fußballwelt. Der einstige FR-Reporter Stenger weiß um die kleinen Untiefen in der Persönlichkeit des Kumpeltypen.
Teamchef Rudi Völler nimmt aufrecht Abschied
An einem warmen Morgen im Juni 2004 hockt Rudi Völler in aller Früh neben Stenger in einem fensterlosen Saal ohne Blick auf die nahe Küste der Algarve vor einer Werbewand des Deutschen Fußball-Bundes. In der Nacht nach dem enttäuschend frühen Aus bei der Europameisterschaft gegen Tschechien hat er dem Präsidenten Gerhard Mayer-Vorfelder seinen Rücktritt verkündet. „MV“ hat versucht, „Rudi Riese“ umzustimmen. Aber der hat es besser gewusst.
Wir Reporter unten im Saal schauen alle miteinander bedröppelt drein. Den Rudi hätten wir gern als Bundestrainer behalten. Weil er so unkompliziert und nahbar ist, weil er all den furchtbaren Druck, der ihn als Teamchef im November 2001 in der Relegation zur Weltmeisterschaft gegen die Ukraine fast in die Knie zwang, so tapfer trug, weil er vor dem WM-Finale 2002 in Yokohama sogar am Tag vor dem Endspiel noch eine ganze Stunde lang zum Interview bereitstand, und weil wir finden, die Spieler seien schuld und nicht der Rudi. Aber der sieht es viel nüchterner als wir: „Man muss sich auch mal an die eigene Mütze fassen“, sagt er, „Egoismus ist ein falscher Freund.“
Otto Rehhagel erklärt die Fußballwelt
Ein paar Tage später schließt sich für mich ein Kreis. „Der Alte“ Otto Rehhagel rückt mit der griechischen Nationalmannschaft im nahen Stadion von Faro an. Er verliert 1:2 gegen Russland und kommt trotzdem weiter bei dieser sonderbaren Europameisterschaft. Hinterher, in der untergehenden Sonne vorm Stadion, weist er mich und den Kollegen der „FAZ“ zurecht. Er ist unzufrieden mit der Berichterstattung. Nicht mit der über seinen Husarenstreich mit Griechenland. Sondern über irgendeine olle Kamelle wegen Michael Ballack, als er noch Trainer beim 1. FC Kaiserslautern war und Ballack auch mal auf die Bank gesetzt hatte. Rehhagel hat ein Elefantengedächtnis.
Rudi Völler gehört nicht zu den Menschen, die Sportreportern deren alten Geschichten nachtragen. Als der Trainer Rehhagel, dem er sehr viel zu verdanken hat, in Faro seine Weisheiten verbreitet, ist Völler mit der deutschen Mannschaft aus dem schönen Strandort Quinta do Lago längst abgerückt. Der Mannschaftsbus steht noch tagelang in der Einfahrt des Hotel Ria Park Garden direkt gegenüber dem Fußballplatz herum, und in der verlassenen Herberge hockt der Präsident Mayer-Vorfelder einsam in einem Korbstuhl wie in einem Geisterhaus. Er sucht mit wachsender Verzweiflung einen neuen Bundestrainer. Rudi Völler hat ihn mit seinem unaufgeforderten Rücktritt auf dem falschen Fuß erwischt. Wie vorher Legionen von Abwehrspielern.
Ich habe Rudi Völler danach nicht mehr so oft gesehen, außer im Fernsehen, meist dann, wenn er sich fürchterlich über den Schiedsrichter aufregte. Bayer Leverkusen gehörte nicht zu den Klubs, die von uns regelmäßig begleitet werden. Einmal sind wir zum Interview bei ihm in Leverkusens Arena, er lädt uns sehr entspannt in eine Loge, es geht mit einem Fahrstuhl hoch, es gibt Kaffee und Kuchen und obendrauf seine Handynummer.
Rudi Völler bereitet den Weg für Oliver Bierhoff
Schon vormals, als Teamchef der Nationalmannschaft, sind Gespräche mit Rudi Völler auch kurzfristig zustande gekommen und komplikationslos autorisiert worden. Gar kein Vergleich mit der Entwicklung danach. Einmal sagt er uns, dass er sich manchmal ein bisschen alleingelassen fühlt beim DFB. „Alle Klubs haben einen Manager, nur wir hier nicht.“ Das ist eine gute Schlagzeile. Er bereitet so den Boden für Oliver Bierhoff.
Neulich in Frankfurt , am gegenüberliegenden Gate im Terminal 1, Abschnitt A des Flughafens, steht Rudi Völler ganz hinten in der Schlange zum Flug nach Rom, seiner zweiten Heimat, aus der seine Frau kommt. Er schaut rüber, wo auch der Flug nach Bremen gleich geht. Als sich unsere Blicke kreuzen, kommt er lächelnd zu mir. „So viel Zeit muss sein. Dauert ja noch da drüben“, sagt er. Doch kaum losgeplaudert, ist die Schlange plötzlich weg. Die Zeit hat nicht gereicht, ihm die Geschichte zu erzählen, an die er sich gewiss nicht mehr erinnert. Damals, vor 39 Jahren, mit Jörg Wontorra und Otto Rehhagel in der Werder-Kabine.



